Lemberger Leiche
EinweghandschuhenFrau Kurtz’ langen muskulösen Körper abtasteten, zuckten ihre Fäuste in den Fesseln.
Brünnhilde wurde erst ruhiger, als sie merkte, dass die Frau etwas übersehen hatte: den MP3-Player. Er steckte in einer Seitentasche des Kulturbeutels wie in einem Geheimfach. Nachdem die elektrische Zahnbürste gegen eine polizeieigene ausgetauscht worden und auch der Kamm wieder in das Täschchen gewandert war, durfte Brünnhilde dieses mit in die Zelle nehmen. Bevor die Tür geschlossen wurde, nahm ihr ein Polizist die Handschellen ab.
Diese Zelle war fast noch mieser als die in Palma, in der sie die vorherigen zwei Nächte verbracht hatte. Eigentlich hätte Brünnhilde, die sich so perfekt an den Luxus des Hotels
Castillo
angepasst hatte, schockiert sein müssen. Aber sie war wandelbar – und sie betrachtete diese Unterkunft als eine Übergangslösung. Unmerklich verfiel sie wieder in eine Angewohnheit, die sie in der Zeit mit Erik verloren hatte: Sie flüsterte ihre Gedanken vor sich hin, wenn sie allein war.
»Ich werde einen Weg finden, aus dem Schlamassel, den mir diese rothaarige Hexe von einer Kommissarin eingebrockt hat, wieder herauszukommen«, vertraute sie der bekritzelten Zellenwand an, als könne die sie verstehen und eine Antwort geben. »Mit dem dickfelligen Schmoll und dem mickrigen Katz werde ich fertig werden, so oder so.«
Die Sonne knallte genauso heiß auf Stuttgart wie auf Mallorca. Ihre Strahlen warfen den Schatten des Fenstergitters auf die gegenüberliegende Zellenwand. Das Fenster lag hoch, aber für Brünnhilde war es, sogar ohne sich auf Zehenspitzen zu stellen, erreichbar. Sie blickte hinaus und sah Weinberge.
Ihre Gedanken wanderten auf den Lemberg, und sie murmelte: »Man sollte nicht auf Weinfeste gehen.« Dann dachte sie an Erik. Nicht mehr rachsüchtig, sondern sehnsüchtig. »Mein Kleiner«, flüsterte sie. »War nicht alles harmonisch zwischen uns? Hätte das nicht so bleiben können? Ich hab dir doch jeden Wunsch erfüllt. Musstest du so ungezogenwerden? Man darf sich nicht mit Walküren anlegen. Verstehst du?«
Mit einem energischen Plumps ließ sie sich auf die Pritsche fallen, fingerte den MP3-Player aus der Tasche und steckte sich die Stöpsel in die Ohren. Der
Walkürenritt
brauste auf: peitschend, unheilschwanger, dunkel und grauenvoll. Was sonst hätte jetzt besser gepasst? Sie brauchte diese Musik, um stark zu bleiben. Sie meinte zu wissen, wer sie war. Trotz aller Verwandlungen, denen sie sich in letzter Zeit unterzogen hatte. Nachdem sie den
Walkürenritt
drei Mal gehört hatte, wählte sie das
Siegfried-Idyll
. Unter dem Zauber der Geigenklänge entspannte sie sich, kippte zurück und schlief ein. Sie merkte nicht, wie ab und zu das Licht anging und jemand durch die Türklappe spähte.
Sie träumt, der Ring des Nibelungen wird von den Rheintöchtern für 250 000 Euro feilgeboten. Sie kauft ihn und tauscht ihn für einen Vergessenheitstrank, den sie einer Kriminalkommissarin einflößt, vor der sie endlich Ruhe haben will.
Während das
Siegfried-Idyll
verklang, lag Brünnhilde anmutig auf dem unbequemen Bett. Ihr Gesicht hatte sich verklärt. Ihr Lächeln war glücklich und verheißungsvoll. Die Fanfarenklänge des nächsten Musikstückes schreckten sie auf. Sie stellte den Player ab, versteckte ihn und schlief wieder ein, schlief sorglos und fest, trotz hartem Lager. Im Traum war sie Wotans Lieblingstochter Brünnhilde, eine Walküre, die das Schicksal fügen kann, ein Todesengel, der Menschen in die Welt der Ahnen geleitet.
Neunzehn
Freitag, 16. Juli
Bevor an diesem Morgen das Verhör mit Brünnhilde Kurtz fortgesetzt wurde, sollte noch eine Zeugin befragt werden. Katz führte eine zarte schokoladenbraune Schönheit ins Büro.
Irma dachte: Höchstens zwanzig Jahre und anmutig wie eine Gazelle. Nach den hundert Zöpfchen aus Kraushaar zu urteilen, stammt sie aus Eritrea oder vielleicht auch aus Äthiopien.
Augen wie schwarze Murmeln wanderten scheu von einem zum anderen und blieben an Irma hängen.
»Das ist Bonnie«, sagte Schmoll. »Ihre Personalien sind schon aufgenommen. Ihr wahrer Name ist Bosede Berhane.«
Da der Blick des jungen Mädchens immer noch an Irma hing, fragte Schmoll, ob sie sich gern mit Kommissarin Eichhorn allein unterhalten wolle. Als Bosede nickte, verließen Schmoll und Katz das Büro.
Bosede alias Bonnie sprach perfektes Deutsch, diesbezüglich war die Unterhaltung unproblematisch. Schon auf Irmas erste Frage, wie lange
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