Lemberger Leiche
Leben gab.
Und was er auch nicht wusste: Sie wartete darauf, dass er den ersten Schritt zur Versöhnung tun würde. Obwohl er das nicht wusste, nahm er sich wie schon öfter vor, sie demnächst anzurufen. Warum er es nicht gleich tat, hätte er nicht sagen können.
Hauptkommissar Peter Schmoll, ein gestandenes Mannsbild in den besten Jahren, der beruflich keine noch so schwierige Entscheidung hinauszögerte, schob den Anruf bei Karin auf die lange Bank und setzte sich vor den Fernseher. Er war froh, durch den Ausflug zum Lemberg, wenngleich er erfolglos gewesen war, seinen freien Tag gut über die Runden gebracht zu haben.
Auch Irma kam erst am späten Nachmittag wieder daheim an. Nachdem sie eine Weile herumgetrödelt hatte, beschloss sie, etwas für die Verdauung des Zwiebelrostbratens zu tun. Seit einer Woche hatte sie das Joggen wegen der Hitze ausfallen lassen, aber an diesem Abend waren die Temperaturen tauglich für sportliche Aktivitäten.
Wieder einmal beglückwünschte sie sich, in der Thomastraße zu wohnen. Diese ruhige Straße auf dem Killesberg war nicht nur ein idealer Ausgangspunkt, um durch den Park das Präsidium zu erreichen, sondern auch als Start für ihre Joggingrunden geeignet. Heute hatte sie genügend Zeit, um zum Bismarckturm zu laufen.
Als Irma den Bretterzaun entlang der Baustelle, wo einst die Messehallen gestanden hatten, hinter sich hatte, hielt sie sich rechts von dem ebenfalls mit Brettern vernagelten Haupteingang und trabte ein Stück entlang der verkehrsreichen Straße Am Kochenhof. Sie überquerte sie auf einem Fußgängersteg und lief dann leicht bergauf, vorüber an unkrautüberwachsenen ehemaligen Messeparkplätzen.
Über ein paar Umwege erreichte sie die Feuerbacher Heide, die eigentlich nichts weiter als Grasland war, auf dem hin und wieder Schafe weideten. Hinter einer Gruppe uralter Eichen sah Irma den Bismarckturm auftauchen. Am höchsten Punkt angekommen, machte sie im Schlagschatten des Turmes ein paar Dehn- und Atemübungen.
In der Grünanlage waren alle Bänke besetzt. Alt und Jung hatte den Abend genutzt, um einen Spaziergang zu einem der schönsten Aussichtspunkte Stuttgarts zu machen.
Irma setzte sich auf die oberste Stufe der Freitreppe, die zu der Aussichtsgalerie des Turmes führte. Wie immer stockte ihr bei dem Blick über Stuttgart der Atem: Die Stadt lag in sonntäglicher Stille. Lag friedlich in ihrem grünen Kelch und schien voller Geheimnisse. Im Wirrwarr der Dächer und Türme erkannte Irma die markantesten Bauten. Der Hauptbahnhof – noch waren seine Seitenflügel nicht gestutzt. Aus dem Schlossgarten ragte das Kupferdach des Opernhauses. Nicht weit davon entdeckte Irma das Alte und das Neue Schloss, die Stiftskirche und das Rathaus. Das Häusermeer zog sich an den Hängen hoch und ging in die Stadtteile der gepriesenen Halbhöhenlagen über, die wie Inseln zwischen Wäldern und Weinbergen lagen.
Am Horizont blitzte die Nadel des Fernsehturms in der Abendsonne.
Direkt unterhalb der Bismarckhöhe, scheinbar nur einen Katzensprung entfernt, aber mindestens 200 Meter tiefer, lag das Katharinenhospital. Irma stellte sich Helene vor, wie sie durch diesen riesigen Gebäudekomplex irrte und hartnäckig nach einer Krankenschwester fahndete, die ihr etwas über den alten Engelhard erzählen sollte. Irma seufzte, denn mit diesem Gedanken war sie nach fast einer Stunde, in der sie sich den Kopf freigelaufen hatte, wieder bei ihrem Fall gelandet. Diesem Fall, der immer verzwickter wurde. Ein Bankraub – und ein alter Mann, dessen Tod eine Folge davon gewesen sein könnte. Irma wurde das Gefühl nicht los, dass die Leiche am Kotzenloch mit diesem Fall zusammenhing.
Je weniger ihre Kollegen sie wegen der Schwestern ernst nahmen, desto mehr grübelte sie: Über die große Schwester, die Filialleiterin der ausgeraubten Bank war und sich ins Ausland abgesetzt hatte – und über die kleine Schwester, an die sich niemand erinnern konnte und die verschwunden war. Wo sollte sie diese Schwestern suchen?
Irma starrte auf Stuttgarts Panorama und dachte, dass die Stadt eigentlich nur dann wie eine Großstadt wirkte, wenn man von oben auf sie herabblickte und die Höhenzüge nicht im Wege standen. Früher, so hatte ihr Schmoll erzählt, waren die Mädchen aus dem ländlichen Feuerbach tagtäglich über diesen Bergkamm, auf dem sich jetzt der Bismarckturm befand, hinunter ins großbürgerliche Stuttgart gegangen und hatten Milch verkauft. Mit dem Fahrrad hatte Irma
Weitere Kostenlose Bücher