Lemberger Leiche
die Straßen, die sich in Serpentinen hinunterschlängelten, abgefahren. Aber das nächste Mal würde sie über die Stäffele laufen. Über die schmalen Treppenläufe, die zwischen Gärten und Häusern bis hinunter zum Katharinenhospital führten.
In dieser Stadt, dachte Irma, brauchte sich niemand von einem Dach zu stürzen. Es gab die senkrechten Hänge neben den Stäffele und manchmal auch ein Mergelloch, in das manspringen oder hinuntergeworfen werden konnte – und damit waren ihre Gedanken endgültig zu der Leiche aus dem Kotzenloch zurückgekehrt.
Irma schloss die Augen, öffnete sie aber sogleich wieder, weil ein Schatten auf ihre Lider fiel. Der Schatten gehörte zu einem sportlich gekleideten jungen Mann, der eine Baseballkappe trug. Er kehrte ihr den Rücken zu und schaute ins Tal. Bevor er weiterging, zog er seine Kappe ab und dabei kamen blonde Locken zum Vorschein. Irma rannte ihm nach, um ihn von vorn zu sehen. Es war ein Mädchen.
Die Erkenntnis, dass junge Leute sich an ihrer Kleidung nicht immer spontan in Männlein oder Weiblein unterscheiden ließen, war Irma zwar nicht neu, traf sie aber jetzt wie ein Hexenschuss. Plötzlich schien alles ganz einfach. Sie war dem Geheimnis auf der Spur. Die blonde Perücke, die Nutella im Wald gefunden hatte, wurde endgültig zu einem wichtigen Indiz. Mit einem Satz sprang Irma auf und joggte wie gehetzt nach Hause.
Als sie daheim ankam, war es halb zehn und immer noch hell. Nachdem sie geduscht hatte, fabrizierte sie eine ihrer nicht gerade künstlerischen, aber überaus logischen Grafiken. Danach ging sie mit einem Buch ins Bett. Ein historischer Roman, den Helene ihr aufgedrängt hatte. Eine Geschichte, die in Schwaben spielte, von einer schwäbischen Gräfin handelte und von einer schwäbischen Vielschreiberin verfasst war. Als nach den ersten fünf Seiten Irmas Kopf zurücksank und ihr die Augen zufielen, rutschte das Buch vom Bett. Es fiel auf den Fußboden, die Seiten raschelten und raunten, bis es sich selbst zugeklappt hatte.
Irma träumte. Schmoll springt ins Kotzenloch und seine zwei Zentner wippen unten auf einem Trampolin aus Buschwerk, das raschelt und raunt. Schmoll trällert dazu die ersten Takte einer Mozartsonate, die Töne von Irmas Handy-Klingeln. Irma lässt Schmoll trällern und träumt lieber von Leo, der sein Telefon in der Hand hält und wartet, dass sie ihres abhebt.
Irma schreckte hoch, weil es wirklich klingelte und angelte nach dem Handy. Aber es war nicht Leo, es war Mama.
Sie sprudelte ihre Erlebnisse des Tages durch die Leitung: »Gut angekommen. Wunderbare Fahrt durch den Schwarzwald. Baden-Baden ist ein Traum. Das Kurhaus, irrsinnig edel. Erlesene Speiserestaurants.
In einem allerliebsten Café am Römerplatz in der Altstadt Kaffee getrunken. Auf der Kurpromenade flaniert. Abendessen im Europäischen Hof. Ein unvergleichliches Hotel! Ich habe alles fotografiert!«
Das Wort »fotografiert« weckte in Irma eine Erinnerung. Verdammt, dachte sie, ich habe Helenes Fotos nicht ausgedruckt, nicht mal angesehen! Mam hat mich mit ihrem Besuch völlig aus dem Konzept gebracht. Na ja, ich kann ihr nicht die Schuld an meiner Vergesslichkeit geben – wahrscheinlich war es die Leiche im Kotzenloch, die alle meine Gedanken verklebt hat.
»Bist du noch dran?«, rief Mama.
Irma gähnte geräuschvoll.
»Hast du schon geschlafen?«
»Ja, Mam.«
»Dann schlaf weiter, mien Deern. Ich ruf dich morgen wieder an.«
Irma war hellwach geworden. Sie stand auf, verband Helenes Kamera mit dem PC, sah die Fotos an und schaltete den Drucker ein.
Neun
Montag, 5. Juli
Als Irma morgens ins Präsidium kam, sagte Katz, Schmoll hätte vor fünf Minuten angerufen und mitgeteilt, er würde sich mit Stöckle in Stammheim treffen, um Fabian Knorr zu verhören.
Irma versuchte lange vergeblich, Schmoll in der Justizvollzugsanstalt zu erreichen. Als er endlich sein Handy abnahm, blaffte er Irma an, was es so Wichtiges zu bereden gäbe.
»Ich hab Stöckle versprochen, dass wir Knorr gemeinsam verhören. Unter uns gesagt, Irma: Stöckle hat vorige Woche nicht erreicht, den Jungen geständig zu machen. Null Erfolg. Ich bin überzeugt, zu zweit schaffen wir das heute. – Wenn’s bei deinem Anliegen nicht um Leben und Tod geht, solltest du abwarten, bis ich in circa zwei Stunden zurück bin!«
»Es geht um Leben und Tod«, sagte Irma nachdrücklich. »Es geht um den Tod des jungen Mannes, den wir aus dem Kotzenloch geborgen haben. Eine heiße Spur! –
Weitere Kostenlose Bücher