Lenas Flucht
Straßencafé und hielt sich dort zwei Stunden lang an einer Tasse Kaffee fest. Für Europäer war Essen etwas Bedeutendes. Die Amerikaner dagegen widmeten sich ihm ohne jeden Respekt, dafür mit viel Genuß. Sie aßen gern – wann und wo immer das möglich war. Andererseits machten sie soviel Gewese um ihre Gesundheit, rauchten nicht und joggten in Massen durch den Central Park.
Während Lena das alles durch den Kopf ging, behielt sie die Passagiere im Auge. Plötzlich spürte sie einen durchdringenden Blick. Direkt ihr gegenüber neben der Dicken mit den Makkaroni hatte ein junges Mädchen Platz genommen, ein typisches Collegegirl: kurzes rotes Haar, weiter Pullover, Jeans und Turnschuhe. Sie kam Lena bekannt vor, als hätte sie sie erst vor kurzem irgendwo gesehen.
War das nicht gestern auf der Straße vor der Universität, wo sie beinahe unter die Räder gekommen wäre? Nein.Das Mädchen, das sie dort zurückgerissen hatte, war schwarzhaarig gewesen. Langes schwarzes Haar unter einem Lederkäppi. Sie konnte sich doch nicht über Nacht die Haare abgeschnitten und gefärbt haben.
Das Mädchen von gestern hatte ihr das Leben gerettet. Vielleicht war auch das ein Anschlag gewesen? Lieber Himmel, wie oft war sie in Moskau dem Tod entronnen, und jetzt auch hier schon zweimal …
Sie würden es ein drittes und ein viertes Mal versuchen, bis es ihnen gelang. Hier hatten sie sogar noch bessere Chancen. Sie war allein, und niemand schützte sie. Aber das schlimmste: Sie brachte auch Steven in Gefahr. Sie konnte nicht bei ihm bleiben. Wo aber sollte sie hin?
In New York hatte sie mehrere gute Bekannte. Hier und da konnte sie gewiß übernachten, aber nicht zwei Wochen lang wohnen. Und mit welchem Recht durfte sie das Leben dieser Leute in Gefahr bringen? Die fanden sie überall. Sie war schutzlos und unbewaffnet. Unbewaffnet … Warum eigentlich?
Zunächst erschien ihr der Gedanke geradezu absurd.
Als sich ihre Blicke kreuzten, dachte Sweta: Bald wird sie mich erkennen. Ich kann Perücken und Kontaktlinsen wechseln, sooft ich will, ich kann mich mit Make-up zudecken, es nützt alles nichts. Sie ist schon nahe dran. Vorläufig wirkt die Tarnung, aber höchstens noch ein-, zweimal. Vielleicht setze ich mich einfach zu ihr und nehme direkten Kontakt auf? Nein, dafür ist es noch zu früh. Ich müßte zuviel erklären, und vielleicht glaubt sie mir auch nicht.
Hätte sie an Lenas Stelle einen Mann zu beschatten, natürlich keinen Profi, dann brauchte sie nur Perücken und Kleidung zu wechseln. Die interessiert immer nur der Gesamteindruck, nicht die Einzelheiten. Eine Frau sieht anders, sie bemerkt Details, typische Gesichtszüge. Ich müßte wissen, worüber Lena mit der Polizei geredet hat. Aber sicher ist nichts dabei herausgekommen. Man braucht sie nur anzuschauen.
Von der Universität rief Lena Steven an.
»Bei mir wird’s heute spät – sicher erst gegen elf. Ich will einen russischen Freund besuchen. Erinnerst du dich an den Dichter Arseni? Ja, er wohnt immer noch in Brighton. Gut, ich grüße ihn von dir. Küßchen.«
Einundzwanzigstes Kapitel
Sie saßen in einer kleinen, heruntergekommenen Bierkneipe unweit vom Zwetnoi Boulevard. Krotows Gesprächspartner, ein mageres, schmalschultriges Bürschchen, war furchtbar hungrig. Er verschlang bereits die zweite Portion Hackfleischröllchen, die außen verbrannt und innen noch roh waren. Schon von dem Geruch wurde Krotow übel. Das Bier war lauwarm und gepanscht.
Krotow rauchte und wartete darauf, daß sein Gast endlich satt wurde. Der Mann arbeitete schon seit Jahren als Informant für ihn. Er hatte zweimal wegen Raub und Diebstahl gesessen.
Sein Glasauge hatte ihm den Spitznamen »Auge« eingebracht. Der bürgerliche Name war Wenjamin Seliwestrow.
Endlich fuhr Wenja mit einer Brotrinde über den Teller, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel, die Krotow ihm hinhielt.
»Fertig, Chef. Jetzt können wir reden.«
»Ich muß wissen, für wen dieser Mann gearbeitet hat.« Krotow zeigte seinem Gegenüber ein Foto des Toten. »Er heißt Juri Bubenzow. Seinen Decknamen kenne ich nicht.«
»Na, du bist gut, Chef!« meinte Wenja kopfschüttelnd. »Du weißt doch: Einen Menschen ohne Decknamen gibt’s bei uns einfach nicht.«
»Er sollte einen Mord ausführen, ist aber wahrscheinlich kein Profi. Möglicherweise sein erster Auftrag. Und gleich schiefgegangen.«
Das Auge war schon der dritte Informant, den
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