Lenke meine Fuesse Herr
Doch ich denke hier an die Menschen, die man auf dem Weg, speziell auf dem Jakobsweg trifft: Was unterscheidet einen Pilger vom „normalen“ Wanderer? Wann bin ich das eine, wann das andere? Diese Frage ist schwer zu beantworten, zumal die Übergänge oft fließend sind und jeder, der auf einem Pilgerweg ist, beides gleichzeitig oder nacheinander sein kann — von einer Rolle in die andere wechselt und zurück. Niemand ist immer nur das eine oder das andere. Ich glaube, der Hauptunterschied zwischen Pilger und Wanderer liegt in den Gründen, weshalb sich jemand auf den Weg macht. In einem Satz ausgedrückt: Der Wanderer „macht“ den Weg nach Santiago (oder nach Altötting oder nach Andechs), der Pilger macht sich auf den Weg.
Also: Bei dem einen steht die sportliche Leistung im Vordergrund. Das ist der, der in den Herbergen fragt: Wie weit heute, wie weit überhaupt? Wie schwer ist dein Rucksack, was ist deine Durchschnittsleistung, welche Höhenunterschiede — alles Fragen, die auch in jeder Alpenvereinshütte gestellt werden. Wanderer fragen auch nach der Burg, die man hätte besuchen müssen, der Kirche, die man besichtigt hat, dem Aussichtspunkt, den man unbedingt „mitnehmen“ musste. Ich will diese Fragen nicht als „minderwertig“ abtun, aber sie zeigen, wo der Frager die Hauptmotivation seines Wanderns sieht.
Auch der Pilger ist stolz auf die sportliche Leistung, die er vollbringt oder vollbracht hat. Auch er sucht Kultur, auch er genießt und bewundert die grandiose Natur und Landschaft, die er durchwandert. Der Pilger ist auch Wanderer und Tourist. Doch im Vordergrund steht bei ihm der Weg nach Innen, die Suche nach spirituellen Werten, die Suche nach Gott und Glauben, nach Erlösung oder Befreiung von seelischen Lasten. So richtet er, bei aller Offenheit für das, was am Weg liegt, den Blick nach innen — und auf die Gemeinschaft mit den Mitpilgern. Diese unterschiedliche Motivation spiegelt sich in Einstellung und Verhalten des Pilgers wider.
Der Mann, der sich beklagt, der Jakobsweg sei keine Herausforderung mehr — das ist ein Wanderer. Die Frau, die spontan einem Anderen, den sie kaum kennt, Geld leiht: Das ist eine Pilgerin.
„Der Tourist fordert, der Pilger bittet“ — das steht in der Pilgerherberge von Santibanez zwischen Leon und Astorga. Der Wanderer, der Tourist stellt Ansprüche. Er erwartet Service, hat dafür bezahlt oder ist bereit, dafür zu zahlen. Dadurch erwirbt er sich ein Recht auf bestimmte Leistungen. Der Pilger nimmt an, was ihm der Tag bringt und er nimmt es als ein Geschenk an — ein Geschenk der Menschen und ein Geschenk Gottes — und er ist dafür dankbar. Der Mann, der sich im Pilgerbuch eben dieser Herberge darüber beklagt, dass es zum — spottbilligen — Abendessen keinen Wein gegeben hat: Das ist ein Tourist! Ein Pilger hätte sich wohl mit dem gereichten Wasser begnügt — oder er wäre die fünfzig Meter zum Dorfladen zurückgelaufen und hätte für die Tischgemeinschaft Wein besorgt.
Wohl das wesentlichste Merkmal eines Pilgers, das ihn vom Touristen unterscheidet, ist, dass er sich auf die religiösen Angebote am Weg einlässt, und zwar bewusst und auch innerlich. Andachten in den Pilgerherbergen, gemeinsamer Besuch der Messe — oder auch nur gemeinsames Singen: Wenn ich mich darauf einlasse — nicht nur einfach mitgehe, sondern mich einlasse auf diese Gemeinschaft im Glauben mit Anderen, über alle konfessionellen, sprachlichen und sonstigen Grenzen hinweg: Dann bin ich wohl wirklich ein Pilger.
„Du gehst auf den Jakobsweg als Wanderer und kommst als Pilger in Santiago an!’ Diesen Satz hört man immer wieder. Da steckt eine tiefe Erkenntnis dahinter: Der Wanderer, der sich auf die Gemeinschaft der Mitpilger einlässt, oder der die endlosen, einsamen, eintönigen Strecken des Weges beispielsweise durch die Meseta auf sich wirken lässt, sie bewusst mit sich selbst geht, den verändert der Weg. „Das ist ja ein richtig kontemplatives Gehen!“, sagte mir eine junge Österreicherin, als wir zwei Stunden schweigend nebeneinander durch die Meseta gewandert waren.
Wer es dann noch fertig gebracht hat, beim Aufbruch den Alltag hinter sich zu lassen, aufzu“brechen“ aus dem, was ihn zuhause gefangen nahm — dem wird vielleicht zuteil, was sich viele vom Jakobsweg erhoffen: Sich selbst und Gott zu finden.
Dann ist aus dem Wanderer ein Pilger geworden.
III. Menschen und Gemeinschaft:
Durch Spanien bis zum Atlantik
Sonntag, 3. Juli
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