Lennox 02 - Lennox Rückkehr
letzten Tropfen leert, weiß man, dass es brennt.
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Bridgeton war eine Gegend, in der man sich elegant vorkommt, nur weil man Straßenschuhe anhat. Wie es schien, war dort Fußbekleidung bis zum Alter von zwölf Jahren freigestellt; danach hatte man schwere genagelte Arbeitsschuhe zu tragen, mit denen ein 45-Kilo-Jüngling auf der Straße klang wie eine vorbeimarschierende Wehrmachtsdivision. Wie neunundneunzig Prozent der Einwohner Bridgetons stand auch Jimmy MacSherry nicht im Telefonbuch. Ich sagte mir, dass es wohl am besten wäre, wenn ich selbst hinging und ein bisschen an die Türen pochte. Ich vergewisserte mich, dass ich meinen Schlagstock einsteckte. Bridgeton gehörte zu den Gegenden, wo man sich nackt vorkam, wenn man nicht irgendwas dabeihatte, mit dem man anderen Leuten Schmerzen zufügen konnte.
Ehe ich in die Straßenbahn nach Bridgeton stieg, bekam ich einen Anruf von Davey. Wie erwartet, hatte er nichts zu berichten, nur dass Kirkcaldy am Nachmittag nach Maryhill zum Training gefahren war. Ich hatte Davey angewiesen, beim Haus zu bleiben und nicht Kirkcaldy zu folgen, und das hatte er getan. Ich merkte, dass Davey sich Sorgen machte, ich könnte enttäuscht sein, weil er nichts zu berichten hatte, aber ich versicherte ihm, er mache seine Sache gut, und als er auflegte, war er genauso eifrig und begeistert wie am Vormittag, als ich ihn dort zurückgelassen hatte.
Für den Rest der Welt war ein Glasgower ein Glasgower und nichts anderes. Sie sahen alle gleich aus, sprachen das gleiche unerforschliche Patois und schufteten in einer Werft, einer Fabrik oder einem Stahlwerk. Sie teilten außerdem die gleiche schizoide Tendenz, einerseits die warmherzigsten, freundlichsten Menschen zu sein, die man sich denken konnte, und dennoch die Neigung zu vollkommen psychopathischen Gewaltorgien an den Tag zu legen. Manchmal geschah beides gleichzeitig. Doch innerhalb Glasgows verlief eine Kluft, die seine Arbeiterklasse in zwei Lager teilte. Oberflächlich war diese Trennlinie religiöser Natur: Protestant gegen Katholik. In Wirklichkeit war die Trennung ethisch: schottische Glasgower gegen irischstämmige Glasgower. Und der biblische Hass zwischen den beiden Gemeinden fand seinen Brennpunkt in den beiden Fußballmannschaften, Rangers und Celtic.
Bridgeton lag am Stadtrand und sah mehr oder weniger aus, wie der Glasgower Stadtrand auch überall sonst aussieht. An den Straßen reihten sich Mietskasernen und vierstöckige Wohnhäuser.
Das Baumaterial der Wahl in Bridgeton war nicht Ziegel oder gelber Sandstein gewesen, sondern roter Sandstein, aber eigentlich war diese Unterscheidung unerheblich, denn sämtliche Häuser waren dunkel vom Schmutz, wie alle Glasgower Bauwerke. Gelegentlich blitzte die darunterliegende Farbe durch den Ruß und verlieh dem Gebäude den Anschein eines dunklen, verrostenden Schiffswracks, das in den Himmel ragt. Wie in anderen Teilen der Stadt wurden die schlimmsten Elendsquartiere allmählich beseitigt, um Platz zu schaffen für neue Wohnblocks. Der Geist des Atomzeitalters hatte Glasgow erreicht, und bald würden alle seine Bewohner die allermodernsten Annehmlichkeiten genießen können. Zum Beispiel Klosetts mit Wasserspülung.
Bridgeton unterschied sich in einer Hinsicht von anderen Teilen der Stadt: Es stach hervor durch die Intensität seines Hasses auf seinen Nächsten. Nirgendwo in Glasgow ging es ultraloyalistisch-protestantischer und Katholiken hassender zu als hier.
Vor ein paar Wochen war Bridgeton wie jedes Jahr am 12. Juli zur Sammelzone für die Dudelsackkapellen, Trommler und Marschierer geworden, die den Sieg des protestantischen Königs Wilhelm von Oranien über den katholischen König Jakob in der Schlacht am Boyne feierten. Sobald sie sich gesammelt hatten, marschierten sie im Triumph durch die Straßen Glasgows – besonders die vornehmlich katholischen Straßen. Überraschenderweise ließen sich die mürrischen Katholiken so gar nicht von der Feierstimmung anstecken und weigerten sich, Lieder mitzusingen, die Verse hatten wie: »Wir stehen bis zu den Knien in Fenierblut, ergebt euch oder sterbt!«
Aber Glasgow war vor allem eine Stadt des Gleichgewichts und der Fairness, und daher gab es auch einen ultrarepublikanisch-katholischen, Protestanten hassenden Teil Bridgetons. Die Norman Conks, die katholischen Gegenstücke zu den Billy Boys, hatten sich in dem Teil Bridgetons zwischen Poplin Street und Norman Street gesammelt. Ihre Spezialität – abgesehen
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