Lennox 02 - Lennox Rückkehr
davon, dass sie das gleiche Geschick für plastische Chirurgie mit dem Rasiermesser bewiesen wie die Billy Boys – lag im Werfen von Molotowcocktails voll Paraffinöl oder Benzin auf die Marschierer am 12. Juli. Gelegentlich flog auch einmal eine »Wurst«: menschliche Ausscheidungen, locker in ein Blatt Zeitungspapier gewickelt.
Ich fragte mich manchmal, wie Rio auf den Gedanken kam, es könne in puncto Karnevalsatmosphäre mit Glasgow konkurrieren.
Als ich Bridgeton durchquerte, sah ich keine Marschkapellen und bemerkte nur wenig Karnevalsatmosphäre. Nichts hätte weniger festlich wirken können als Bridgeton an einem schönen Sommertag. Auf jeden Fall war ich froh, den Atlantic nicht mitgebracht zu haben. Auf der Straße, in der MacSherry wohnte, parkte kein einziges Auto, und fünf oder sechs Kinder mit schmutzigen Gesichtern und nackten Füßen spielten gehässig miteinander an einer Straßenlaterne. Als ich an einer Toreinfahrt vorbeikam, stand dort ein Mann um die dreißig und beobachtete mich unter der Krempe seiner flachen Mütze hinweg. Er trug ein Hemd ohne Kragen und eine Weste, und die Ärmel waren hochgekrempelt und entblößten Unterarme, die aussahen, als wären sie aus Drahtseilen geflochten. Die Daumen hatte er in die Taschen der Weste gehakt. Er lehnte an dem Durchgang, die Füße in den schweren Arbeitsschuhe an den Gelenken übereinandergelegt. Obwohl er eine denkbar entspannte Haltung einnahm, machte er auf mich den Eindruck, als wäre er ein Wächter oder Aufpasser.
Der einzige andere Mensch, an dem ich vorbeikam, war eine Frau um die fünfzig, die weiter die Straße hinauf ein Haus verließ. Sie war so breit wie hoch und trug ein formloses schwarzes Kleid. Vielleicht war auch nur der Körper unter dem Kleid formlos. Sie hatte sich ein Tuch straff um den Kopf geschlungen, und ihre Beine waren nackt; ihre Strümpfe hatten sich zu beigefarbenen Reifen um ihre Fußgelenke abgerollt. An den Füßen trug sie dunkle Pantoffeln mit Tartanmuster. Irgendetwas hatte die Haut ihrer Beine veranlasst, purpurrote Flecken auszubilden, und ich empfand plötzlich das dringende Bedürfnis, auf ewig dem Corned Beef abzuschwören. Als sie an mir vorbeiging, beäugte sie mich mit noch größerem Misstrauen als der hemdsärmelige Wachtposten, den ich gerade passiert hatte. Ich lächelte sie an, und sie starrte finster zurück. Und dabei hatte ich ihr gerade sagen wollen, wie sehr es mich entzückte, dass Diors »New Look« endlich auch in Glasgow angekommen war.
Ich fand die Mietskaserne, die ich suchte, und stieg die Treppe hoch. Das Eigenartigste an den Glasgower Armenvierteln ist, dass man von den Steintreppen oder den Türschwellen der einzelnen Wohnungen hätte essen können. Glasgower erfüllt es mit maßlosem Stolz, öffentliche Flächen zu reinigen – Hausdurchgänge, Treppen, Eingänge. Normalerweise gibt es einen strengen Putzplan, und eine Hausfrau, deren Türschwelle oder Treppenabsatz nicht funkelt, wird schnell zur gesellschaftlich Ausgestoßenen.
Die Wohnung MacSherrys lag im dritten Stock. Der Treppenabsatz war so sauber wie erwartet, aber in der Luft hing ein irgendwie unangenehmer Geruch. Ich klopfte an der Tür. Mir öffnete eine Frau Mitte sechzig. Sie war so fett, dass mir die Dame, der ich vorhin auf der Straße begegnet war, grazil und elfenhaft erschien.
»Hallo, könnte ich bitte mit Mr. MacSherry sprechen?«
Die fette Frau wandte sich wortlos von mir ab und watschelte durch den Korridor davon, ohne die Tür wieder zu schließen. Sie quälte in rascher Folge mehrere Vokale, was ich als »Da will dich einer sprechen« verstand.
Ein Mann Ende sechzig, Anfang siebzig kam aus dem Wohnzimmer und trat an die Tür. Er war klein, nur etwa eins fünfundsechzig, aber kompakt und drahtig, und sein schwerer Schädel war mit weißem borstigem Haar überzogen. Er hatte etwas an sich, das mich an einen gealterten Willie Sneddon denken ließ. Nur war Sneddons Rasiermessernarbe ein zierlicher Nadelstich verglichen mit dem Kreuz und Quer alter Schnittwunden auf MacSherrys Stirn und Wangen. Wie Onkel Bert Soutar stand diesem Mann seine gewalttätige Vergangenheit ins Gesicht geschrieben, nur in einem anderen Dialekt.
»Was zum Henker wollen Sie?«
Ich lächelte. »Ich wollte Sie um Hilfe bitten. Ich suche Informationen für jemanden. Jemanden, den Sie von früher kennen könnten.«
»Verpiss dich«, sagte er ohne Zorn oder Boshaftigkeit und drückte die Tür zu. Ich hielt sie auf, indem ich
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