Lennox 02 - Lennox Rückkehr
gleichen Seite wie sie gewesen zu sein.
Nach dem Krieg war Polen-Tony wie so viele seiner Landsleute zu dem Schluss gekommen, das Leben auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs sei vorzuziehen. Zuerst war er mit einer Aufenthaltsgenehmigung hier geblieben, dann als naturalisierter britischer Bürger. Er hatte eine Schottin geheiratet und sich in Polmadie im Süden der Stadt niedergelassen. Polmadie war ungefähr so malerisch, wie sein Name nahelegte: ein Gewirr aus Mietskasernen und öffentlich geförderten Doppelhäusern. Man darf nicht vergessen, in einer Stadt mit Bezirken wie Auchenshuggle und Roughmussel klang Polmadie absolut lyrisch. Und ein Doppelhaus ist ein Palast im Vergleich zu einem Elendsquartier in Gorbals.
Polen-Tonys Tagesbeschäftigung war Gemüsehändler. Als Pole war ihm nicht klar gewesen, dass Obst und Gemüse – solange es nicht frittiert war oder sich frittieren ließ – auf jeder Glasgower Einkaufsliste irgendwo unter »ferner liefen« standen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb der Gemüsehandel Tonys Tagesbeschäftigung geblieben war. Denn es war seine Nachtbeschäftigung, die ihm das Geld einbrachte: Polen-Tony Grabowski öffnete Türen. Geldschranktüren. Er war ohne jeden Zweifel der beste Schränker in ganz Schottland gewesen. Einen Tresor, der ihm standgehalten hätte, gab es nicht. Als Schränker lebte man allerdings gefährlich. Man musste immer damit rechnen, den Halt zu verlieren, vom Regenrohr abzurutschen, zu fallen. Hinzu kam die Gefahr durch stillen Alarm, Nachtwächter oder Streifenbobbys mit leisen Sohlen.
Deshalb hatte Tony, als er genügend Geld zusammenhatte, um seine Familie zu versorgen, das Schränkern rechtzeitig an den Nagel gehängt und sich der Welt der welkenden Kohlköpfe und runzligen Tomaten ergeben. Nur hin und wieder organisierte Tony ein Kartenspiel oder eine Sportwette, um das Einkommen aus Erbsen und Spargel zu ergänzen.
Ich fand Polen-Tony hinter der Theke seines Ladens auf der Cathcart Road. Er war ein kleiner, stämmiger Mann mit breitem polnischen Gesicht und noch breiterem polnischen Akzent. Er wurde kahl und rasierte, was von seinem Haar übrig war. An dem dunklen Bogen, der sich von Schläfe zu Schläfe schwang, erkannte ich, dass wir schon näher an fünf Uhr waren, als ich gedacht hätte.
»Hallo, Tony ... was tut sich? Was gibt’s Neues?«
Tony lachte über das Filmzitat. Er kicherte sogar, was in schroffem Widerspruch zu seinem stämmigen, kräftigen Körper stand. Er war ein Fan von James Cagney und hatte sich bei unserer ersten Begegnung von meinem »amerikanischen« Akzent fasziniert gezeigt. Seitdem begrüßte ich ihn jedes Mal, wenn ich ihn sah, mit dem Rocky-Sullivan-Spruch aus Engel mit schmutzigen Gesichtern. Einmal hatte ich es mit Bogart aus Der Schatz der Sierra Madre versucht, war aber unter seinem missbilligenden Blick regelrecht verdorrt.
»Hallo, Lennogs. Vaz tut zich? Vaz gibt’s Neues? Ist eine Veile her, neebour.« Tonys Partytrick wirkte umso toller, weil er nicht wusste, dass es ein Partytrick war , gleichzeitig im Glasgower Dialekt und mit einem schweren polnischen Akzent zu sprechen. Wer eine neue Sprache lernt, spricht in dem Idiom, dem er ausgesetzt ist. Soweit es das Englischlernen betraf, war Tony dem linguistischen Äquivalent zu Gammastrahlung ausgesetzt worden: dem Glasgower Englisch. Tony scherzte und quatschte wie ein gebürtiger Glasgower, aber jeden führenden Konsonanten ersetzte er durch ein V oder ein Z, wenn es irgend ging. Er klang genauso komisch wie unverständlich, und mich heiterte es jedes Mal auf, wenn ich ihn reden hörte. Ich ließ es mir aber niemals anmerken.
»Hallo, Tony. Wie läuft das Geschäft?«
»Vie üblich. Kann mich nicht beschweren ... vaz vürd’s auch nützen«, antwortete Tony im üblichen Mix aus Will Fyffe und Akim Tamiroff. Vielleicht spielte auch noch ein bisschen Bela Lugosi mit hinein. »Vaz is’ los?«
»Ich versuche etwas rauszufinden.«
»Na, da zind Zie hier richtig. Ich kenne meine Zwiebeln.« Er stieß sein Mädchengekicher hervor und wies mit einer ausholenden Geste auf seine Auslagen.
Wir wurden unterbrochen von einer Frau mit Kopftuch, Haushaltskittel und verblassten Tartanbaffies, die man aus Gründen, die mein Begriffsvermögen um Lichtjahre überstieg, in Glasgow »Pantoffeln« nannte. Die Frau war irgendwo zwischen dreißig und achtzig. Glasgower übergingen in der Regel die mittleren Jahre und nahmen die Direktroute von der Jugend zur
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