Leo Berlin
Vielleicht heute Nacht, nach der Aktion im Scheunenviertel.
11
Beim ausgiebigen
Nachmittagstee, der für ihn, wenn er zu Hause war, ein festes Ritual
darstellte, las er aufmerksam die Zeitung. Er überschlug den
politischen Teil, weil er sich nach der Unruhe der letzten Tage eine
entspannende Lektüre wünschte, und konzentrierte sich ganz auf
Gesellschaftsberichte, Mode und Sport. Auf der letzten Seite stieß
er unter der Rubrik AUS DER WELT DER KRIMINALISTIK nach längerer Zeit
wieder auf den Namen Sartorius. Aufmerksam las er den Artikel durch und
runzelte die Stirn. Hier wurden die Morde an Gabriel Sartorius und Erna
Klante im selben Satz genannt. Und beide Fälle wurden vom selben
Kommissar bearbeitet. Dem Mann, dem er wenige Stunden zuvor auf dem Flur
seiner Firma begegnet war.
Die angespannte Stimmung
erinnerte an einen wolkenverhangenen Himmel, der auf Regen wartet. Zum Glück
hielt sich von Malchow zurück, er schien zu spüren, dass er es
zu weit getrieben hatte, als er den Zeitungsartikel herumzeigte. Robert
und Berns saßen mit Stankowiak im Fond und verständigten sich
hinter dem Rücken ihres Chefs mit Zeichen. Ist schlecht aufgelegt,
deutete Robert an. Kein Wunder, dachte er, er hatte Marie im Krankenhaus
besucht und wusste, wie schlecht es ihr ging. Doch er ahnte, dass mehr
hinter Leos gereizter Stimmung steckte. Vermutlich Ilse. Verdammt
schwierige Sache.
Berns verzog hinter von
Malchows Rücken das Gesicht und verdrehte die Augen. Robert musste
grinsen. Insgeheim hofften sie wohl beide auf eine Konfrontation, die die
Luft reinigen würde, wussten aber auch, dass Leo zu klug war, um
gleich beim ersten Einsatz einen Streit zu riskieren.
Stankowiak saß
schweigend daneben und hielt sich aus der lautlosen Unterhaltung heraus.
Leo stellte den Wagen in der
Auguststraße nahe der Einmündung Oranienburger Straße ab
und stieg aus. Es war ein warmer Abend, die Gehwege waren schon gedrängt
voll. Aus den Kellern klang scheppernde Musik, Geigen quietschten,
Klaviere klimperten. Nicht gerade die Staatsoper, dafür aber laut. Er
gab noch einmal die Koordinaten durch. »Walther, Berns und von
Malchow, Sie übernehmen die Auguststraße, die Große
Hamburger, Gipsstraße und Sophienstraße. Stankowiak und ich
gehen die untere Linienstraße, Mulackstraße und Grenadierstraße
ab. Die Lokalitäten sind bekannt, ebenso die wichtigen Fragen. Und
vergessen Sie bitte nicht die Vergangenheit der Toten, vor allem den Namen
des Etablissements, in dem sie früher angeschafft hat. Wir treffen
uns um eins wieder hier. Viel Erfolg, meine Herren.«
Als Robert zögerte, trat
Leo neben ihn. »Du willst wissen, warum wir nicht zusammen gehen?«
Sein Freund nickte.
»Weil ich einen zuverlässigen
Mann bei von Malchow haben möchte.«
Robert nickte wieder. »Verlass
dich auf mich.«
Leo sah den drei Männern
nach, die gleich das nächste Lokal ansteuerten.
»Stecknadel im
Heuhaufen, was?«, fragte Stankowiak leise.
»Mm. Aber so ist die
Polizeiarbeit. Wir lösen unsere Fälle nicht bei Koks oder
Geigenspiel, sondern mit viel Fußarbeit.«
Als Stankowiak ihn verwundert
ansah, meinte er: »Sherlock Holmes, Sie wissen schon. Los geht’s.«
Auf den Straßen
schwappte die Menschenmenge zwischen den Häusern hin und her. Es war
noch hell, doch die engen Straßen wirkten durch die ungewöhnlich
dichte Bebauung dunkler als das übrige Berlin. Passend, denn dieses
Viertel war immer ein wenig schwärzer als die anderen.
Falls die Leute sie als
Polizisten erkannten, achteten sie nicht darauf. Die Polizei gehörte
hier zum Alltag, und solange keine Razzia stattfand, ging alles seinen
gewohnten Gang. In der Linienstraße blieb Leo kurz vor dem grauen
Mietshaus stehen, in dessen Hof man die Leiche gefunden hatte. »So
viele Leute, und keiner will etwas gesehen haben.«
»Bis auf den
Lumpensammler.«
»Ja, aber für eine
Identifizierung reicht auch das nicht aus«, sagte Leo skeptisch.
»Wir gehen zuerst in das Lokal in der Mulackstraße, das Erna
Klantes Freundin gehört. Die möchte ich mir gern persönlich
ansehen.«
»Die Linienstraße
zieht sich ganz schön«, meinte Stankowiak unterwegs. Er sah an
den Häusern hoch, von denen teilweise der Putz blätterte und das
darunter liegende Mauerwerk preisgab.
Leo war in Gedanken versunken
und antwortete nicht. Ihm wollte nicht in den
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