Leo Berlin
warten wolle.
»Warten? Seit Wochen
sind wir hinter dem Kerl her. Er hat bei Cramers eine theaterreife
Vorstellung hingelegt, die vermutlich einem kranken Hirn entsprungen ist.
Und mich dann hinterrücks überfallen. Wer weiß, wozu er
sonst noch fähig ist.«
»Schon, Leo, aber
–«
»Kein aber. Ich komme
mit. Wartet unten auf mich, ich gehe noch kurz zu Marie.«
Er ließ sich von einer
Schwester den Weg zur Kinderstation erklären. Marie lag jetzt in
einem großen Saal, in dem zwanzig Kinderbetten standen. Der einzige
Schmuck waren einige Buntstiftbilder an den Wänden, sonst wirkte der
Raum mit den weißen Metallbetten ziemlich kahl und abweisend. Er sah
sich suchend um, doch Marie winkte ihm schon fröhlich zu. Sie kniete
im Bett und hielt ein aufgeschlagenes Buch in den Händen. »Guck
mal, Papa, das hat eine Frau zu Tante Ilse gebracht. Das ist für
mich.«
»Hallo, Liebes.«
Er setzte sich vorsichtig aufs Bett und nahm seine Tochter in den Arm. Sie
kuschelte sich an ihn, schaute hoch und deutete erschrocken auf seine Schläfe.
»Papa, was hast du denn
gemacht?«
»Ein kleiner Unfall,
aber es geht mir schon besser. Endlich kann ich dich wieder anfassen.«
Er strich ihr sanft über die Wange. »Du darfst bald nach Hause.«
Dann warf er einen Blick auf das Buch. TIERGESCHICHTEN FÜR DIE JUGEND
stand darauf. »Und von wem hast du das?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Eine Frau hat es Tante Ilse für mich gegeben, hab ich doch
gesagt. Von der sind auch die beiden hier.« Sie zeigte auf zwei
weitere Bücher, die auf dem Nachttisch lagen. Da wurde ihm alles
klar.
»Ich glaube, wir müssen
uns bei jemandem bedanken.«
Auf dem Weg nach draußen
überlegte Leo, ob seine Entscheidung wirklich richtig gewesen war. Im
Bett hatte er sich ganz kräftig gefühlt, doch schon jetzt, nach
wenigen Metern, sickerte ihm ein Rinnsal Schweiß zwischen den
Schulterblättern hinunter. Er wischte sich mit der Hand über die
Stirn.
»Fühlen Sie sich
nicht wohl?«, fragte eine Schwester, die gerade vorbeikam.
Er schüttelte den Kopf.
»Es geht schon, danke.« Er holte tief Luft und ging weiter
Richtung Ausgang, getrieben von dem dringenden Bedürfnis, Edel persönlich
Handschellen anzulegen. Ein kräftiger Tritt vors Schienbein wäre
ihm allerdings noch lieber gewesen.
Er parkte vor dem
Hintereingang der Firma, stieg mit dem Koffer aus und sah sich um. Die
schmale Straße lag verlassen da. Wohnhäuser gab es keine, nur
hohe Mauern und Zäune, hinter denen Fabriken und Werkstätten
lagen. Er schloss die Tür auf, die unauffällig in die Mauer
eingelassen war, und schlüpfte hinein. Die Treppe führte von der
winzigen Diele aus steil nach oben.
Er war seit Jahren nicht
hier gewesen. Nicht seit dem Tod seines Vaters, als er die Wohnung zum
ersten und gleichzeitig letzten Mal betreten hatte.
Er erinnerte sich, wie er
den Testamentsvollstrecker nach dem Schlüssel gefragt und ein
mitleidiges Lächeln geerntet hatte. Der Anwalt hatte einen
vielsagenden Blick mit dem Betriebsleiter gewechselt und ihn zu der
zweiten Tür geführt, die von der Manufaktur aus zu erreichen
war. »Sehen Sie selbst, Herr Edel.«
Eigentlich war es keine
Wohnung, sondern ein einziges riesiges Schlafzimmer mit dem größten
und luxuriösesten Bett, das er je gesehen hatte. Es symbolisierte auf
schamlose Weise, wozu sein Vater diesen Raum benutzt hatte. Hierher war er
gegangen, wenn er sich angeblich in wichtigen Besprechungen befand und
sogar den eigenen Sohn abwimmeln ließ.
Er hatte nie erfahren, ob
seine Mutter von alldem wusste, weil er nie gewagt hatte, sie darauf
anzusprechen.
Die Entdeckung hatte
seinen Ekel vertieft, seinen toten Vater noch fremder erscheinen lassen,
als er ihm ohnehin immer gewesen war.
Nun aber war er froh, dass
es diesen Zufluchtsort gab. Hier würde er auf Viola warten.
21
Der Briefumschlag lag
zwischen ihnen auf dem Tisch, als wage keine der Frauen, ihn zu berühren.
Daneben ein einzelnes Blatt: edles, graues Bütten mit feinem
Wellenrand.
Viola sah ihre Mutter
zweifelnd an. »Soll ich den Kriminalbeamten anrufen, der mit uns
gesprochen hat?«
Ellen überlegte. »Ich
weiß nicht so recht, ich will mich auch nicht lächerlich
machen. Der arme Mann ist vermutlich so verliebt, dass er nicht mehr weiß,
wo ihm der Kopf steht.«
»Nein«,
entgegnete Viola heftig, »das glaube ich
Weitere Kostenlose Bücher