Lesereise Kulinarium - Italien
Hochzeitsreise. Von Rom, der Stadt, in der sie lebt, hat sie weniger gesehen als ein Dreitagestourist, »das tut mir weh«. Im Petersdom war sie zuletzt als Fünfzehnjährige. Nie in der Oper, nie französisch gegessen, »und vielleicht bin ich die einzige Frau, die nie ein langes Kleid angezogen hat, um auf ein Fest zu gehen«, sagt Anna.
Dennoch nimmt sie wie Aldo und die anderen teil an Geselligkeiten, um die mancher sie beneidet. Immer war der Pommidoro ein Lokal, in dem alle Klassen willkommen waren, die Arbeiter des Viertels, die Professoren der nahen Universität, die Künstler aus dem Atelierhaus gegenüber. Im Pommidoro isst Ceccio, der Anstreicher, der mal im Gefängnis Regina Coeli einsaß, so gut wie Angelo, der Biologieprofessor, und Claudio, der Fotograf. Alles Freunde, amici . Nette Gäste gehören bald zur Familie, wie Christian, der Münchner Fotograf vom Atelierhaus drüben, der sogar nach Mitternacht noch zu essen bekommt.
Sind die Bestellungen verebbt und die Gasflammen herabgedreht, hocken Anna und Aldo sich hinaus vor die Tür oder zu den Freunden an den Tisch. Jeder Tag bringt Begegnungen, Wiedersehen mit den amici , die sich für Annas Tafelfreuden mit Gefälligkeiten revanchieren. Wie viele amici haben sich nicht eingesetzt, um den zuständigen Dezernenten der Stadt zu überzeugen, dass Aldo nun endlich die Genehmigung für eine wetterfeste Überdachung der Lokalfläche auf der Piazza braucht! Und wie hat erst der amico Medizinprofessor geholfen, der gestern in die Küche kam und Anna begrüßte. Heute Mittag hat er ihr einen Kliniktermin freigehalten, um ihr Bandscheibenleiden zu untersuchen und ein Pflaster aufzukleben, umsonst und blitzschnell, weil Anna ja zurück an den Herd musste. So funktioniert Italien, und anders funktioniert es nicht; anders hätte Anna Monate gewartet und einen Tag verloren.
Ja, es hat seine schönen Seiten, das Trattoria -Leben. Beispielsweise wirft das Lokal ein schönes Geld ab. Aldo und die Schwiegersöhne fahren allesamt Mercedes, auch aus Wertschätzung für deutsche Art und Arbeit, wie er sagt. Die Familie besitzt ein paar Immobilien in Rom, Häuser und Geschäftslokale in Annas Heimatdorf Moricone draußen im Sabiner-Land, und wenn Aldo, der Jäger, sich für fünftausend Euro einen Jagdhund kaufen möchte, ist das finanziell kein Problem.
Die eigentliche Genugtuung aber ist etwas anderes, sagt Aldo, während er an einem der Tische auf der Piazza die eben eingetroffenen Steinpilze aus Kalabrien säubert. Dass man Anerkennung bekommt; dass eine Zeitschrift das Lokal empfahl; dass der spanische Regisseur Pedro Almodóvar, ein amico , im Fernsehen vom Pommidoro sprach; dass TV -Stars zum Essen da waren, auch der Komiker Benigni und der Verleger Einaudi. Der Uni-Rektor kommt, der Bezirkspräsident, ein paar Politiker, berühmte Künstler wie Nunzio und Pizzi Cannella. »Wenn ich diesen Beruf nicht hätte, dann würde ich in meinem bescheidenen Leben diese Leute nie treffen«, sagt Aldo. »Wenn einmal Helmut Kohl in Rom wäre und zum Pommidorokäme – da würde ich mich aufpumpen!«
Früher war auch der Dichter und Filmer Pier Paolo Pasolini regelmäßig zu Gast, oft hat Aldo mit ihm geplauscht. Einmal brachte er Maria Callas mit. Und 1976, am Vorabend seiner Ermordung, aß Pasolini im Pommidoro wie üblich Beefsteak mit mozzarella ; der Scheck, mit dem er zahlte, elftausend Lire, hängt bis heute eingerahmt am Kücheneingang.
Solch ein Souvenir entschädigt für Strapazen, die nie enden. Es ist ja nicht vorbei, wenn nachts um halb zwei der Rollladen der Eingangstür zu Boden rasselt und die Schwiegersöhne die Mercedes anwerfen. Während sie die dreiundvierzig Kilometer hinausfahren nach Moricone, wo sie alle wohnen, während Aldo auf dem Rücksitz kurz einnickt, ist ein Gewährsmann schon unterwegs zum Schlachthof, um frisches Lammgedärm zu holen. Angekommen auf dem Landgut, das Aldo und Anna sich außerhalb Moricones auf fünf Hektar grüner Einsamkeit errichtet haben, füttert Aldo noch im Lampenlicht die Hunde im Zwinger und Anna schaut nach der Voliere, in der sie bunte Vögel hält, darunter zehn Pfauen.
Moricone ist Heimat, Flucht- und Ruhepunkt, auch Rohstoffbasis. Aldo hat hier draußen den Wein gepflanzt, den er im Pommidoro ausschenkt, von hier kommt das Öl, hier wachsen die Desserts auf Bäumen: Birnen, Feigen, Pfirsiche oder Kirschen. Ardian und Zamir, die beiden Küchenhelfer, pflücken das Obst am anderen Morgen, schütten den Hühnern
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