Lesereise Kulinarium - Italien
sie filmen lassen, wie sie ihre carbonara macht? Wäre sonst das Lokal jeden Abend voll? Und würde Anna sich sonst täglich außer sonntags in diese Hitze stellen, vom Vormittag bis in die Nacht? »Ich weiß nicht, woher sie all die Kraft nimmt«, sagt Aldo. »Anna ist ein Motor, der nie anhält.« Und jeden Abend wird der Motor auf höchste Tourenzahl gejagt, wenn hundert Gäste an den Tischen sitzen, wenn die Kellner laufend neue Ordres in Annas Flammenbaldachin hinüberschreien.
Der Pommidoro ist ein klassischer Familienbetrieb, wie es sie in Italien zu Hunderttausenden gibt. Kellner sind Aldos und Annas Schwiegersöhne Amedeo, Mario und Valentino. Mittags hilft auch Tochter Dina, abends springen bei Bedarf auch deren Schwestern Sandra und Rossana ein. Es bedienen ferner Toni, ein Neffe Marios, und Livio, der ein Cousin Amedeos und ein Schwager Marios ist. Und Benito, der im offenen Kamin über Holzkohlenglut die Steaks und Fische brät, ist ein Onkel Amedeos. Aldo, der padrone , ist der Libero. Hier nimmt er Vorbestellungen entgegen, empfängt die Gäste, schneidet Spanferkel auf; dort füllt er Wein ins Fass, putzt Muscheln, hackt Ochsenschwänze klein, sitzt am Schreibtisch. Nur Aldo und Mario stellen Rechnungen aus, nur Aldo und Amedeo schneiden Schinken auf, und zwar von Hand.
Als Küchenhelfer sind Zamir und Ardian eingestellt, zwei junge Albaner. Ardian wäscht Geschirr, richtet Röstbrot mit Tomaten her und geht den Kellnern bei den Nachspeisen zur Hand. Zamir schafft Fleisch herbei, schlägt Eier für die carbonara , spickt Meerestiere auf die Grillroste, streut Sägemehl am Boden aus und springt behände ein, wo immer eine Lücke klafft. Zamir hilft Anna, die Bestellungen der Schwiegersöhne lauthals zu memorieren, und Zamir ist der Einzige, der an die Töpfe darf. Denn eigentlich herrscht Anna dort allein und unumschränkt. »Ich muss frei sein können«, sagt sie. Als sie vor dreißig Jahren ihre Tochter Rossana gebar, stand Anna noch am Abend vor der Entbindung am Herd – und am Tag danach schon wieder.
Die Köchin blüht geradezu auf im Stress, nie würde man vermuten, dass sie einmal wegen Herzbeschwerden sieben Jahre ausgesetzt hat; damals war der Pommidoro vermietet und verkam. Heute zeigt nur ein Furunkel an Annas Stirn, wie Stress verwunden kann, wenn die Stunde der größten Anstrengung gekommen ist. Abends gegen zehn, wenn im Hauptlokal, im Keller und auf der Piazza kein Stuhl mehr frei ist; wenn der Hunger der Erwartungsvollen wie eine Brandung an den spiegelblanken Küchentisch heranrollt; wenn jeder an jedem Tisch eine andere pasta bestellt – dann ballt sich die Anspannung, erzittert die Küche im schöpferischen Chaos. Dann kommt es vor, dass für den Bruchteil einer Minute neun Menschen gleichzeitig den Raum zwischen Eingang, Spüle, Herd und Kühlschränken füllen; dass Valentino Brot schneidet und Amedeo mit blanker Hand Salat mischt; dass Ardian Öl zapft und Zamir Teller in den Lift zum Keller schiebt; dass Mario nach Gläsern klaubt, Livio nach Rouladen ruft und Toni vor dem Ventilator Kühlung sucht; dass Aldo Schwertfisch zerteilt und Anna mit dem Dreizack im grünen Sugo rührt, dessen Rezept sie nicht verrät.
Wer da die verwegene Idee hatte, man könnte als Reporter einmal mitarbeiten in dieser Küche, Auberginen schneiden und Zucchiniblüten putzen, der kapiert rasch, wie sehr dies eingreifen würde in die Rhythmen einer eingeübten Gemeinschaft, deren aufgepeitschte Energien sich ständig neu zu einem anderen Wimmelbild zusammenfügen. Es ist schon aufregend genug, mitschwitzend ein paar Tage zwischen Abfalltonne und Küchenwaage auszuharren und hineinzusehen in das bebende Universum. »Schau hier, zum Kosten«, ruft Anna und reicht tagliolini mit Tintenfischsugo herüber. Und danach fettucine mit Gemüsesauce. Und eine Gabel Rindsgeschnetzeltes. Und Wildschwein. Und Bries. Und Kutteln. O Santa Trattoria, schön ist dieses Leben, doch es ist auch hart.
Sie wissen es. Ja, »es ist ein zu großes Opfer«, sagt Mario, als sich nach Mitternacht die Kellner und die Küchenhelfer mit buccatini all’amatriciana zum Essen setzen. Schichtarbeit heißt Verzicht, wer im Restaurant beschäftigt ist, kommt nicht ins Kino, geht nicht aus, sieht selten einmal fern. »Es fehlt die Freiheit«, hat Anna gesagt, als sie und Aldo nach der Mittagsschlacht draußen unterm Sonnenschirm mit dem jungen Paar aus Neapel plauderten. Ach, Neapel. Ein einziges Mal war Anna dort, auf der
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