Lesereise Mallorca
Maritim, kein Hupkonzert, kein Geschiebe der Parkplatzsucher, kein Gedränge von Passanten – und ein ganz anderes Hotelerlebnis als an den Stränden: eher, als ob man eine Ferienwohnung genommen hätte oder privat zu Besuch wäre. Ein bisschen, als ob man dazugehörte, einen Kurzurlaub lang Bürger Palmas wäre. Es fühlt sich an, als gäbe es kaum andere Touristen. Und niemals ahnt man, auf Europas beliebtester Ferieninsel zu sein.
Palma ist als Städtereiseziel bislang Minderheitenprogramm geblieben, als Shopping-Destination noch nicht im Blickpunkt, als Kulturziel zahllosen Konzerten und Museen zum Trotz recht unbeachtet. Eine der schönsten Metropolen Spaniens reduziert zum Tagesausflugsziel für Badeurlauber? Palma hat mehr verdient, gilt als eine der besterhaltenen mittelalterlichen Städte Europas und wartet dennoch auf ihre Entdeckung.
Gegründet wurde sie vor über zweitausendeinhundert Jahren von den Römern als Palmaria Palmensis. Medina Mayurca hieß sie in der Zeit der Maurenherrschaft von 902 bis 1229, an die die arabischen Bäder ebenso erinnern wie der Almudaina-Palast. Der gesamte Kern der Inselhauptstadt ist maurischen Ursprungs, in seiner heutigen Struktur über tausend Jahre alt, unübersichtlich, verwinkelt, eng – eine Medina mit hohen, oft nahezu fensterlosen Fassaden Richtung Straßenseite, mit wehrhaften Mauern zum Schutz vor Piratenüberfällen, vor einfallenden Eroberern.
Das Leben der Menschen im Stadtkern orientiert sich seit Jahrhunderten weg von der Gasse, hin zum Innenhof, zu den versteckten grünen Oasen zwischen all den Ziegelsteinen. Dort blühen Oleander und stehen kleine Mosaiktische im Schatten von Orangen- und Zitronenbäumchen. Das ist es, was den kleinen Stadthotels ihre Heimeligkeit verleiht. Sie müssen ohne Vorfahrt auskommen, und ihre Rezeptionen verbergen sich meist hinter einem normalen Hauseingang.
Eine Vorschrift zwingt die Bewohner, tagsüber ein Tor zur Straßenseite offen zu halten oder durch ein schmiedeeisernes Gitter zu ersetzen, damit Fremde die Pracht der historischen Höfe einsehen können. Noch immer halten sich nicht alle daran. Dabei bekam man zeitweilig sogar das Geld aus der Stadtkasse erstattet, wenn man Umbaumaßnahmen vornehmen lassen musste, um der Verordnung gerecht zu werden.
Palma konnte es sich lange leisten, bei der Erhaltung des historischen Gesichts spendabel zu sein. Die Gemeinde hatte sogar so viel Geld, auf Müllabfuhr und hässliche Tonnen in der Altstadt verzichten zu können. Jahre hat es gedauert, sämtliche Gassen aufzugraben und ein Netz aus Rohren zu verlegen, durch die der Müll nun im Vakuumverfahren unterirdisch aus Einwurföffnungen abgesaugt und wegtransportiert wird. So etwas leistet sich nur, wer keinerlei andere Sorgen hat. Das System ist da, funktioniert, wird genutzt und gepflegt – nur bauen würde es heute niemand mehr. Palma geht es auch nach Ausbruch der Wirtschaftskrise, die Spanien viel schlimmer und länger im Griff behält als etwa Deutschland, verglichen mit anderen spanischen Städten gut – aber eben nicht mehr sehr gut. Dem Müll gilt heute nicht mehr die erste Sorge der Regierung.
Auf dem Kathedralenhügel, der nun von dem modernen Müllentsorgungssystem untertunnelt ist, haben einst die Aristokraten Palmas gewohnt. Fassaden von schlichter Schönheit tragen den Staub der Jahrhunderte in den Poren des Sandsteins. Mehr und mehr dieser palacios wurden nach und nach restauriert und oft teuer verkauft. Bis zu sechstausend Euro kostete ein Quadratmeter sanierter Wohnfläche auf dem Kathedralenhügel zu besten Zeiten – und bei Topobjekten sind die Preise kaum eingebrochen. Wer ähnlich schön wohnen will, ohne sich dauerhaft ein solches Quartier leisten zu können, gehört zur Klientel der kleinen Altstadthotels.
Die Zugezogenen, mit oder ohne Eigentumswohnung im Innenstadtpalast, hocken in der Mittagszeit gerne unter Sonnenschirmen im Café Lírico an der nahe gelegenen Avinguda d’Antoni Maura. Sie sitzen nicht primär dort, um gesehen zu werden. Aber viele andere gehen vorbei, um zu schauen – so lange, bis sie sich irgendwann einfach dazusetzen. Dieses Café ist Laufsteg und Bühne Palmas zugleich. Für die Anwohner gehört es zum Alltag.
Tiefer in der Altstadt sind die Bars kleiner, ist die Atmosphäre privater, muss keiner nach dem einen bekannten Gesicht suchen. Dort kennen einander alle, sind Nachbarn, Freunde und womöglich auch Feinde einander vertraut. Sie hocken an zwei winzigen Tischchen
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