Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
Dame unterm Kronleuchter und nippt an ihrer Tasse Tee. Mit dem Windhund zu Füßen, dem rosa Kaschmir-Rolli und dem cremefarbenen Hosenanzug fügt sie sich ins Interieur, als wäre es um sie herum gebaut. Doch angesichts der Tatsache, dass das Grand Hôtel Normandie Barrière in Deauville 2012 seinen hundertsten Geburtstag feierte, ist dies eher unwahrscheinlich.
Wahr ist hingegen, dass das Städtchen für das Geschäft mit den Besuchern eigens angelegt wurde. Ein Halbbruder Napoléons III ., der Herzog Charles de Morny, besuchte den Sprengel im Jahr 1858. Dosville hieß das Dorf seinerzeit schlicht; seine Einwohnerzahl war noch zweistellig, hinzu kamen diverse Schafe und Kühe. Mit einigem Weitblick erkannte der Herzog, dass aus einem derartig breiten Strand doch etwas zu machen sein müsse. Zunächst wurde das sumpfige Land trockengelegt, dann rasch ein symmetrisches Straßennetz entworfen. Eine Eisenbahnstrecke wurde verlegt, ein Bahnhof erbaut. Die Ursprünge des alten Bauerndorfs versanken unter neonormannischem Fachwerk, das heute selbst schon wieder historischen Wert und ästhetischen Reiz besitzt. Vier Jahre nach des Grafen erstem Besuch nahm Deauville sein neues Leben als Treffpunkt der vornehmen Gesellschaft aus der Hauptstadt auf: Ein »Königreich der Eleganz«, wie Morny es sich vorgestellt hatte, wurde es tatsächlich. Zumal der Herzog immer noch nicht Ruhe gab und 1866 auf einem trockengelegten Stück Marschland ein Pferderennen ins Leben rief, den Vorläufer des berühmten Grand Prix de Deauville. Kein Wunder, dass eine Sportzeitung das Städtchen als »Mornyville« titulierte – was sich aber nicht durchsetzte.
In diesen frühen Tagen war Tourismus automatisch elitär. Erst ab Mitte der dreißiger Jahre erhielten Arbeiter und Angestellte in Frankreich bezahlten Urlaub. Ohne Not dem Arbeitsplatz fernzubleiben, dazu noch eine Menge Geld für den Tapetenwechsel auszugeben, das war lange etwa so erstrebenswert wie Kopfläuse oder ein offener Beinbruch. Und so blieb die haute volée auch in der Sommerfrische unter sich, genau wie daheim in Paris. Die Destination war schon deshalb très chique , weil man da war. Da fiel es kaum ins Gewicht, dass die Anreise zu dem schönen Stückchen Küste fast so lang dauerte wie heute ein träge vertrödeltes Wochenende zwischen Strandkorb und Casino. Dabeisein ist alles. So funktioniert der Tourismus hier seit mehr als hundertfünfzig Jahren – heute, weil die Hauptstadt nur mehr zwei Autostunden entfernt liegt, damals, weil man es sich leisten konnte, gleich für mehrere Wochen in die Ferien zu entschwinden.
Hundertfünfzig Jahre haben eine Gemeinde entstehen lassen: Viertausend Menschen leben hier im Winter – ein veritables Dorf, nichts gegen die vierzigtausend, die hier an Sommerwochenenden in den schicken Boutiquen shoppen, in Meeresfrüchten schwelgen, das eine oder andere Gläschen Champagner schlürfen. Glamourös geht es zu, es gibt einen Jachthafen, zwei Fünf-Sterne-Hotels, mehrere Golfplätze und natürlich die berühmte Pferderennbahn.
Elegante Architektur, ein gediegenes Preisniveau und der tausendvierhundert Meter lange Strand, den kein Steinchen verunziert, sind Deauvilles Trümpfe geblieben. Das auf dem Reißbrett entworfene Städtchen hat es fertiggebracht, nie aus der Mode zu kommen. Angesichts der eher milden Sommer der Kanalküste und der Konkurrenz sonnenverwöhnter Regionen nicht nur im Süden Frankreichs, sondern in vielen anderen Ländern der Erde, die durch den Massentourismus schnell und relativ preiswert erreichbar geworden sind, ist das ein erstaunliches Kunststück.
Coco Chanel eröffnete ihr erstes Geschäft außerhalb der Hauptstadt in Deauville. Die exklusive Boutique existiert noch immer. Zum Festival für den Amerikanischen Film, dem zweitwichtigsten in Frankreich nach Cannes, kommen die Stars in Scharen aus dem fernen Hollywood angereist. Und auch das Standesbewusstsein hat man ins 21. Jahrhundert gerettet. Der Campingplatz wurde dezent drei Kilometer vom Zentrum am Ortseingang angesiedelt, ziemlich genau zwischen Deauville und Trouville – als wollte sich keines der beiden Bäder so recht zu dieser Einrichtung bekennen. »Deauville« darf der Platz dennoch im Namen führen, und dass er ein beheiztes Schwimmbad besitzt, muss in dieser Nachbarschaft als selbstverständlich gelten.
Die 1923 angelegten planches , sechshundertdreiundfünfzig Planken aus besonders widerstandsfähigem Bongossi-Holz, führen zu den Umkleidekabinen
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