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Lettie Peppercorn und der Schneehaendler

Lettie Peppercorn und der Schneehaendler

Titel: Lettie Peppercorn und der Schneehaendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Gayton
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Teresa war der begabteste Lehrling, den er je gehabt hatte. Um ehrlich zu sein, sie hatte mehr Talent im kleinen Finger als Blüstav in seinem ganzen Körper. Ja, er hatte seine Bibliothek, das Labor und die ordentlich beschrifteten alchemistischen Substanzen in den Regalen. Aber Teresa verfügte über eine unglaubliche Vorstellungskraft, was bei einem Alchemisten die wichtigste und nützlichste Fähigkeit überhaupt ist.
    Blüstav bat, ja flehte Teresa an, nicht zu gehen. Er gab zu, ein unfähiger alter Narr zu sein, der ohne sie nicht einmal eine Raupe in einen Schmetterling verwandeln konnte. Als dies nichts brachte, drohte er ihr und fluchte. Und als sie schließlich trotz allem durch die Tür ging, schwor er Rache.
    Aber egal ob Drohungen, Flüche oder Racheschwüre – alles prallte wirkungslos an Teresa ab. Sie war verliebt. Sie schleppte ihren kleinen Kessel die ganze Essiggasse hoch, wo sie sich mit Henry verabredet hatte. Er hatte gerade sein Haus und sein Netzflickergeschäft für zwei Schilling und sechs Pence verkauft.
    »Was soll ich uns dafür kaufen?«, fragte er und zeigte Teresa das Geld.
    »Einen Platz für meinen Kessel«, antwortete sie und sah auf den Flecken steinigen Untergrunds hinunter, auf dem sie gerade standen. »Hier. Hier ist es gut.«
    Und so kaufte Henry Peppercorn Mr Schaad, dem Holzhändler, das Stück Land ganz oben in der Essiggasse ab. Der hatte drei Jahre zuvor alle Bäume gefällt und konnte nichts anderes tun, als darauf zu warten, dass sie wieder nachwuchsen. So kam es ihm sehr gelegen, dass er den Grund und Boden verkaufen konnte.
    Das Land war mit Steinen, Kieseln und Felsklötzen gespickt, mit Zweigen, Stöcken und Baumstümpfen, Seetang, Muscheln und einem verrosteten Anker, Sand, Schlick und Seemöwendung, einem zerbrochenen Stuhl, einer Schornsteinruine und dem Skelett eines Pferdes.
    »Das ist ja die reinste M-m-müllhalde!«, brummte Henry.
    »Mag sein, aber eine Müllhalde mit Potenzial«, sagte Teresa. Und begann mit ihrer alchemistischen Arbeit.
    In Teresas Kessel verwandelten sich Steine in Sessel, Kiesel in Teller. Aus den Felsklötzen wurden Himmelbetten, aus den Zweigen und Stöcken Balken und Ziegelsteine, aus denen Henry Wohnräume, Flure und eine Küche baute. Der Seetang verwandelte sich in Teppiche mit zart eingewebtem Muster, die Muscheln gaben prima Waschbecken und eine Badewanne ab. Aus dem rostigen Anker wurde der Kamin, aus dem Sand und Schlick unzählige Dachziegeln, mit denen Henry das Haus deckte. Nur wenige Dinge blieben, was sie waren: Der Schornstein blieb ein Schornstein und wurde aufs Dach gesetzt. Das Pferdeskelett wurde begraben.
    Als sie fertig waren, schaute Teresa zu dem neuen Haus hoch und konnte nicht umhin zu denken, dass Meister Blüstav jetzt sicher stolz auf sie wäre – und ein bisschen neidisch.
    »Und deswegen verwandeln sich Dinge auch immer mal wieder zurück«, erklärte Lettie. »In ein paar Jahren wird das alles hier nur noch ein Haufen Müll sein. Keine Alchemie wirkt ewig.«
    »Das ist ja lächerlich«, schnaubte der Schneehändler. »Lächerlicher Unsinn.«
    »Nein, das ist es nicht«, sagte Noah. »So ist die Zeit viel schneller vorbeigegangen.«
    Lettie sah zur Uhr neben dem Tresen – es war Mitternacht. Die zehn Minuten waren nur so verflogen, als könne selbst die Uhr es kaum erwarten, ihre Zeiger aneinanderzureiben, um sich aufzuwärmen. Und genau wie der Schneehändler vorhergesagt hatte, spürte Lettie auch schon, wie der Äther aus ihr entwich und nur eine dumpfe, drückende Müdigkeit zurückließ.
    Sie sah in die Runde. Die letzten schwachen blauen Schatten verließen die Lippen und Gesichter aller Umstehenden. Nur der Schneehändler blieb unter der Macht des Äthers gefroren. Schließlich hatte er auch drei Tropfen geschluckt.
    »Tut gut, wenn einem wieder warm ist«, sagte Noah.
    »Kann ich nicht beurteilen«, erwiderte der Schneehändler, die blauen Augen auf den Schnee gerichtet. Dann murmelte er etwas vor sich hin, und seine Mundwinkel zuckten zu einem leisen Lächeln nach oben.
    Die Glotzerin raunte dem Walross etwas auf Bohemienisch zu, und das Walross nickte.
    Lettie sah zwischen den beiden hin und her. Irgendetwas stimmte da nicht.
    Und da sah sie es auch schon.
    Diesmal war es Lettie, die entsetzt die Hand ausstreckte und auf das Walross zeigte. »Sie schmelzen!«, rief sie.
    »Was?«, keuchte der Schneehändler.
    Das Walross tastete ihren Kopf ab und schrie auf.
    Irgendwas musste mit der Alchemie

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