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Lettie Peppercorn und der Schneehaendler

Lettie Peppercorn und der Schneehaendler

Titel: Lettie Peppercorn und der Schneehaendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Gayton
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ihnen waren bereits die hohen Schiffsmasten zu hören, wie sie im Hafen vor sich hin ächzten. Lettie hauchte dem Wind ein Dankeschön zu, dafür, dass er ihr das Leben gerettet hatte. Sie wusste immer noch nicht, wie das Wunder zustande gekommen war: Sie war draußen , und eine unsichtbare Hand geleitete sie durch ein unglaubliches Abenteuer.
    »Der Hafen ist gleich da vorne«, sagte Lettie.
    »Und keine einzige Frostspur in Sicht«, sagte Noah. »Ich glaube, wir haben ihn überholt. Los, gehen wir zu meinem Boot.«
    Mehrere Handelsschiffe – große Gefährte mit drei oder vier Masten und riesigem Ruder – und sogar einige Walfänger mit Schornstein und Kohleantrieb waren im Hafen versammelt. Noahs kleines Boot wurde zwischen ihnen schier zerquetscht. Lettie fragte sich verwundert, wie diese kleine Nussschale mit seinem einen Mast und seiner winzigen Kabine es geschafft hatte, die Welt zu umrunden.
    Offenbar missdeutete Noah ihr offenmündiges Entsetzen als Bewunderung, denn er sagte stolz: »Sie ist wunderschön, nicht wahr? Sie heißt Leuthas Holz . Meine Großmutter hieß Leutha, und das Boot wurde aus ihrem Stängel gebaut.«
    »All das Holz ist aus ihrer Schulter gewachsen?«, fragte Lettie.
    »Mit der Zeit, ja. Wenn bei uns jemand stirbt, wird er bis zum Hals begraben, damit sein Stängel weiterwachsen kann.«
    »Wie ein Baum!«
    »Ganz genau«, sagte Noah. »Jeder unserer Wälder ist der Friedhof eines bestimmten Stammes.«
    »Das klingt, als wäre deine Heimat ganz anders als Albion.« Lettie schloss die Augen und versuchte es sich vorzustellen. »Merkwürdig.«
    Sie nahm Anlauf, rannte ein Stück auf den Hafen zu und blieb dann wieder stehen. Der Wind zog sie zurück ,zurück zu einem schiefen Haus, das sich schwer gegen seinen Nachbarn lehnen musste, weil es zu alt und verfallen war, um allein zu stehen. Das Haus schaute mit der Vorderseite zum Meer. Lettie konnte ihm ansehen, dass es seit vielen Jahren der Wucht der Küstenwinde standgehalten hatte. Und den Matrosen, die zu betrunken oder seekrank waren, um es weiter in die Stadt hinein zu schaffen. Salz hatte die Farbe von den Wänden und dem ehemals oben baumelnden Schild abgefressen, aber Lettie kannte den Namen trotzdem.
    »Wieso hat mich der Wind ausgerechnet hierhergebracht?«, fragte sie. » Zur Muschel vor dem Sturm . Hier kommt mein Vater jeden Abend her, um zu spielen. Letzte Woche hat er neun Schilling und sechs Pence verspielt. Aber er hatte das Geld gar nicht. Deswegen ist Mr Egel ins Gasthaus gekommen und hat alle Bilder von den Wänden mitgenommen.«
    Fetzen von Gesang drangen aus der Kneipe nach draußen. Lettie spähte durch die schmutzige Fensterscheibe hinein. Drinnen herrschte ein Durcheinander aus Bier, Rauch und taumelnden Seeleuten. Hier verbrachte ihr Vater also den Großteil seiner Zeit. Lettie ließ den Blick von einem Gesicht zum anderen wandern, konnte ihn aber nirgends entdecken. Ein paar Matrosen prügelten sich, ein paar Walfänger waren am Trinken, ein paar Schmuggler sangen zu den Klängen einer siebensaitigen Gitarre. Es war ein weithin verbreitetes Lied, das auch Lettie kannte. In über hundert Strophen erzählte es von der Liebe eines Matrosen zu einer Albatrosfrau. Die Schmuggler waren gerade bei Strophe siebenundsiebzig angekommen:
    Sie schwebte herbei zu ihm an Deck
    in einer Vollmondnacht voller Lieder.
    Umschlang mit den Flügeln ihn ganz keck
    und schüttelte ihr Gefieder.
    Und – oh! – sie fing an sich zu wandeln,
    ihre Gestalt fing an sich zu wandeln.
    Der Mond blitzte golden in ihren Haaren.
    Der Mann dacht’ nicht dran, sich zu wehren.
    Sie sagte: »Du hast mich geliebt schon seit Jahren,
    auf allen sieben Meeren.
    Und – oh! – hast durchschaut meine Tarnung,
    nur du hast durchschaut meine Tarnung.«
    »Die Walfänger kenne ich«, sagte Noah. »Manchmal verkaufe ich ihnen meine Rosen, als Mitbringsel für ihre Liebchen. Das da drüben ist Käpt’n McNulty.« Er deutete auf einen rotbärtigen Walfänger mit blutverkrustetem Mund, der sich gerade mit der Spitze seiner Harpune eine Fischgräte aus den Zähnen pulte.
    »Meinst du, er würde uns helfen?«, fragte Lettie. »Hat uns der Wind vielleicht deswegen hierhergeführt?«
    »Der Kerl kann aber nicht viel mehr als Wale jagen, töten und spucken.«
    Lettie verzog das Gesicht, als Käpt’n McNulty die Gräte in den Rachen eines Schmugglers spuckte, der gerade mit Inbrunst einen hohen Ton sang. Er lachte, als der arme Mann zu würgen

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