Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
kleinen Eisscholle geblieben war. Und daraus musste Lettie jetzt irgendwie einen Fluchtplan schmieden, und zwar schnell: Sie hatten nur wenige Minuten Zeit, bis die Blutkübel sie erspähen würde.
»Ideen?«, fragte sie in die Runde.
»Wir sind dem Untergang geweiht!«, jammerte Blüstav. »Wir werden hier auf dem Meer sterben!«
Lettie sah Noah an, aber der kauerte nur, die Knie an die Brust gezogen, auf dem Eis. Seit die Leuthas Holz gesunken war, hatte er weder ein Wort gesagt noch ein Blatt hervorgebracht. Lettie machte sich große Sorgen um ihn. Sie hätte ihn so gern aufgemuntert. Wenn sie doch bloß auch einen Stängel hätte und etwas hervorbringen könnte! Als sie gefroren gewesen war, hatte er ihr Flammenfrucht-Suppe gekocht. Und womit konnte sie ihm jetzt helfen?
Ein Stück altes Seil und ein durchlöcherter Koffer .
Sie rutschte übers Eis näher an Noah heran. Sachte schlugen kleine Wellen an die Ränder der Eisscholle. In der Ferne ging langsam die Sonne auf.
»Noah.«
Er schloss die Augen.
»Ich weiß, wie viel dir dein Boot bedeutet hat. Ich weiß, dass es dich an dein Zuhause und deine Familie erinnert hat.«
Er nickte schniefend.
Lettie sah auf die Wellen zu ihren Füßen hinab. »Wahrscheinlich hast du jetzt mehr Heimweh als je zuvor.«
»Ja«, erwiderte Noah. »Aber ich liebe das Meer einfach zu sehr.«
»Ich weiß nicht, warum, aber ich schaue aufs Meer und mir wird kalt.«
»Aber du kannst den Wind spüren. Das ist das Meer für mich: Freiheit. Eine Million Wege in alle Richtungen. Bevor ich in die Erde gepflanzt werde und mich wie meine Großmutter in einen Baum verwandle, möchte ich die Welt sehen. Und es gibt keinen Ort außer dem Meer, an dem man unmöglich Wurzeln schlagen kann.«
Lettie lächelte. Na zumindest redete er jetzt wieder. »Muss aber einsam sein, immer allein zu reisen.«
»Es gibt nur eins, was noch einsamer ist: Stillstand«, sagte Noah.
Lettie dachte lange darüber nach. »Ich glaube«, sagte sie schließlich bedächtig, »bevor du gekommen bist, habe ich mein ganzes Leben im Stillstand verbracht. Ich meine, ich bin nie nach Tauschdorf gegangen. Ich hatte nie Abenteuer zu bestehen. Ich habe kaum gelacht oder mir etwas ausgedacht oder Hoffnungen gehegt. Ich saß in meinem Gasthaus fest und habe mir Mühe gegeben, meinen Vater …«, sie tastete nach der Glasflasche in ihrer Tasche, »… vor Ärger zu bewahren. Und das mit deinem Boot tut mir sehr leid, Noah, wirklich. Aber alles andere, was passiert ist, tut mir nicht leid. Weil du nämlich jetzt mein bester Freund bist und ich nicht mehr stillstehen muss.« Sie wischte sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich bin in Bewegung.«
Noah schaute nicht hoch. Lettie dachte schon, ihre Worte würden ohne Echo verklingen, aber dann sah sie seinen Stängel – seine Trauerweide fing an, Knospen auszutreiben.
»Geht es dir besser, Noah?«
Er nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Lettie war glücklich, dass sie ihn zumindest ein bisschen hatte aufmuntern können. Dafür waren beste Freunde schließlich da.
»Mir ist kalt«, sagte er plötzlich.
»Mir auch.« Sie fröstelte und steckte ihr frierendes Kinn in den Jackenkragen. »Ein kleines Feuer käme jetzt gerade recht.«
Noah rang sich ein Lächeln ab und schaute sie aus grünen Augen an. »Woran denkst du, Lettie?«
»Zwei Sachen«, sagte sie. »Erstens: Wir können nicht ewig auf dieser Eisscholle bleiben.«
»Richtig.«
»Und zweitens: Der Wind steckt wirklich voller Geheimnisse.«
»Ja.«
»Er kennt sich mit Alchemie aus, Noah. Er hat mir auf dem Schiff geholfen. Ich habe einen Arm und ein Flügelpaar erschaffen. Das ist doch eigentlich unmöglich!«
»Nein, ist es nicht«, widersprach Noah. »Nicht wenn der Wind von einem Alchemisten gelenkt wird.«
Bei dem Gedanken bekam Lettie eine Gänsehaut. »Meinst du, meine Mutter …?«
»Warum nicht?« Noah zuckte mit den Schultern. »Das würde doch einiges erklären. Vielleicht lenkt sie den Wind, wo auch immer sie sein mag. Hilft dir, sie zu finden.«
»Oh, Noah.« Lettie seufzte. »Wenn du recht hast, dann wäre Mama nie weg gewesen. Dann war sie immer bei mir, jeden Tag.«
»Und wenn ich recht habe«, fügte Noah hinzu, »dann müssen wir dem Wind folgen, weil er uns zu ihr führen wird.«
Lettie neigte den Kopf zur Seite. Erst nach links, dann nach rechts, als wäre er ein Kessel, in dem sie Noahs Idee erst einmal herumschwappen lassen musste, bevor sie richtig einsickern
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