Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
Türen mit Äther zugefroren. Klinken und Angeln waren blau von dem Eis, das selbst in tausend Jahren noch nicht abgetaut sein würde. Es gab keinen Fluchtweg, nur das Fenster und den endlosen Sturz in den Ozean tief, tief unter ihr.
Zum Glück hatte Blüstav ihr wenigstens Papier und Stifte dagelassen. Und so setzte sich Letties Mutter wieder hin und ordnete ihre Gedanken, indem sie sie niederschrieb:
Wie ich den Schnee zurückbekomme
1. Ich muss hier raus.
2. Ich muss Blüstav und die Schneewolke finden.
3. Bis ich hier rauskomme, könnte er sonst wo sein.
4. Also muss ich schnell sein.
5. Und überall zugleich.
Und nach dem Aufschreiben des dritten Gedankens beschloss sie, der schnellste Weg, Blüstav zu finden, wäre, sich in Luft zu verwandeln.
Und dann schrieb Teresa in ihrem auf den Wellen tanzenden Eisberg-Labor eine Nachricht für ihre Tochter. Sie lautete:
Lettie, Folgendes darfst du niemals vergessen:
1. Ich bin weggegangen, um dein Leben zu retten.
2. Bis zu meiner Rückkehr bist du stets in Gefahr.
3. Die Gefahr liegt innerhalb von Albion.
4. Setz nie einen Fuß auf den Boden Albions, es könnte dich das Leben kosten.
5. Ich liebe dich, und ich werde zurückkommen.
Henry hatte sie ihre Pläne nie verraten. Er hätte sich sonst nur Sorgen gemacht und versucht sie zu überreden, eine andere Möglichkeit zu finden. Aber es gab keine andere.
Teresa band die Nachricht an Periwinkles Bein und sah ihm nach, als er Richtung Tauschdorf flog. Dann kehrte sie zu ihrem Kessel zurück und machte sich wieder einmal an ihre alchemistische Arbeit.
Mithilfe eines Drachen, den sie aus ein paar Buchseiten und etwas Schnur gebaut hatte, schöpfte sie Äther aus den Sturmwolken, die über sie hinwegzogen. Einen ganzen Tag lang reinigte sie den Äther in Töpfen und Pfannen. Sie destillierte ihn zwanzig Mal, bis er klar und zäh war wie flüssiges Glas.
Am zweiten Tag riss sie ihre Matratze und Kissen auf, um an die Daunen zu gelangen, und verbrannte diese zu einem Pulver, mit dem sie den Äther bestäubte. Sie hoffte, die Federn würden ihm eine schwebende Leichtigkeit verleihen. Dann siebte sie das Ganze durch ein Kupfergewebe, sodass die einst durchsichtige Flüssigkeit jetzt einen silbernen Schimmer bekam. Dabei musste sie den Kessel mit Ziegelsteinen beschweren, sonst wäre er zwei Handbreit über dem Boden geschwebt. Letties Mutter freute sich.
Den ganzen dritten Tag lang ließ sie die Mischung im Kessel köcheln, während sie in einem Topf mit einem Silberspatel dicken Kleber anrührte (schließlich wollte sie, dass ihr neuer Körper zusammenhielt, denn Luft ist bekanntlich flüchtig).
Am vierten Tag fügte sie der Mixtur einen Schuss Dampf (für die Beweglichkeit), eine Unze Quecksilber (für die Schnelligkeit) und drei Stangen Lakritz hinzu (für den Geschmack, schließlich würde sie das Ganze herunterschlucken müssen). Dann goss sie alles in ein winziges Fläschchen und verschloss es mit einem Korken. Am Ende schüttelte sie es so heftig wie möglich und legte es dann auf die Seite, damit sich alles setzen konnte.
Am fünften Tag ruhte sich Teresa aus. Und am sechsten zog sie den Korken heraus, legte das Fläschchen an ihre Lippen und nahm einen winzigen Schluck.
Und die Mixtur wirkte.
Letties Mutter fühlte sich plötzlich sehr seltsam. Sie kam sich vor wie ein Baum, der im Herbst miterleben muss, wie ihm die Blätter von den Ästen gerupft werden.
Sie spürte, wie Teile ihres Körpers aus dem Laborfenster geweht wurden. Erst ihre Finger, dann ihre Zehen. Sie sah zu ihren Füßen hinunter, die auf einmal verschwunden waren. Aber sie spürte sie immer noch. Der Wind hatte sie erfasst und schleuderte sie um den Eisberg herum.
Teresa hielt sich eine Hand vors Gesicht und sah zu, wie sie sich langsam auflöste. Eine Böe nahm sie mit sich und trieb sie zu den Wolken hoch … Letties Mutter konnte kaum seufzen, so schnell wurden ihre Lippen davongeblasen, zusammen mit ihren Ohren, die sich einem nach Norden ziehenden Luftstrom anschlossen.
Teresas Körper verwandelte sich in Luft, blieb aber nicht als Ganzes zusammen, sondern wurde von den Winden in alle Welt zerstreut. Ihre Lippen und Ohren waren schon auf halbem Wege zum Nordpol unterwegs, während ihre Finger von einem Wirbelsturm gen Osten getrieben wurden.
Ich hätte mehr Kleber nehmen sollen, war ihr letzter Gedanke, bevor sie sich endgültig in Luft auflöste.
Jahrelang, während Letties Vater immer unglücklicher wurde und Lettie immer
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