Letzte Beichte
und als das Fax ankam, überraschte es mich nicht, dass Jeremy keine Vorstrafen hatte.
Als Nächstes rief ich beim Sozialamt in Oxford an und fragte, ob es jemals einen Kontakt zu Jeremy Bagshaw gegeben habe. Nein.
Jeremy hatte mir erlaubt, mit seinem früheren Kinderarzt zu sprechen. Also rief ich Dr. Charles McQuillan in der John Street in Oxford an. Dr. McQuillan sagte, dass es seit Bellas Tod wenig Kontakt gegeben habe – hin und wieder eine Ohreninfektion, aber keine psychologischen und psychiatrischen Befunde. Ein bisschen Bettnässen, sonst nichts. »Scheint ein schrecklicher Unfall gewesen zu sein«, sagte Dr. McQuillan.
Dann rief ich Mrs. Anne Bagshaw an, Jeremys Mutter. Die beiden Varianten des Alibis unterschieden sich zu stark – einer der beiden log. Ich fragte mich, ob sie mit mir reden würde.
»Guten Tag«, sagte ich und stellte mich vor. Ich erklärte ihr, wer ich sei, wo ich arbeite, dass ich ein Gutachten für dasGericht schreibe und dass der Richter alles über Jeremys familiären Hintergrund und seine möglichen psychologischen Probleme wissen wolle, was seine Reaktion auf die Haft beeinflussen könne. Ich wisse, so fuhr ich fort, dass all dies sehr schwierig für sie sein müsse, aber ich hätte Jeremy besucht und er komme mit der Situation im Gefängnis gut zurecht und habe gesagt, es würde ihm nichts ausmachen, wenn ich sie anriefe und mit ihr über –
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt merkte ich, dass sie aufgelegt hatte.
Ich ärgerte mich. Warum hatte sie aufgelegt? Was immer Jeremy früher oder jetzt getan hatte, er war immer noch ihr Sohn. Das sollte doch –
»Ich glaube, die Verbindung ist weggebrochen«, sagte ich, als sie zum zweiten Mal abhob. Wieder war die Leitung sofort tot.
Ich war sauer.
»Legen Sie nicht auf!«
Aber sie hatte aufgelegt, und danach wuchs mein Ärger mit jedem Läuten des Telefons. Was ging hier vor? Offenbar hatte sie Jeremy völlig aus ihrem Leben verbannt. Was für eine Mutter ließ ihren Sohn einfach so im Stich?
Während der nächsten zwei Tage bekam ich fünf neue Fälle und zwei weitere Gutachten. Weil Hilary immer noch krankgeschrieben war, hatte sie Danny damit betraut, uns die Aufgaben zuzuweisen.
Bei den Meetings, die Danny dazu anberaumte, saßen wir zu viert um seinen Schreibtisch herum. Ein Stapel mit Anfragen und orangefarbenen Ordnern lag auf dem Schreibtisch, daneben Spielpapier, Schere und Stein.
Ich machte eine Bombe (Daumen hoch, schlägt alles), wann immer ein Sexualtäter auftauchte. Robert und Danny behaupteten, dass Bomben nicht zum Spiel gehörten, aber Penny meinte, das gehe schon in Ordnung.
»Lasst mal«, sagte sie. »Die nehme ich.«
Als das Spiel beendet war, verbrachten wir eine halbe Stundedamit, unsere Fälle zu tauschen. Folgende Argumente kamen dabei zur Sprache:
Er wohnt bei mir in der Nähe. Ich will ihn nicht, weil ich ihm dauernd über den Weg laufen würde.
Er wohnt bei mir in der Nähe. Ich nehme ihn, weil ich ihm dann jeden Freitag um halb vier einen Hausbesuch abstatten kann.
Die hatte ich schon beim letzten Mal. Jetzt bist du dran.
Gib mir den. Ich liebe Schlägertypen.
Gib ihn mir, den kleinen Schweinehund.
Und so kam ich zu fünf Fällen und zwei Berichten, von denen keiner etwas mit Sexualtätern zu tun hatte.
Außerdem gewöhnte ich mir das Rauchen an.
Wie hätte ich dem Rauchen am Arbeitsplatz widerstehen können? Raucher haben das Gen der Unangepassten: coole Typen, die die Gefahr suchen und sich dabei von Regen und Husten nicht beirren lassen. Die Raucher in meinem Büro waren laut und verkatert (meistens), und sie kannten allen Bürotratsch. Während der ca. sechs Kippenpausen in meinen ersten zwei Tagen als neu konvertierte Raucherin fand ich Folgendes heraus:
Robert, mein lustiger, hoch gewachsener Kollege, hatte letztes Jahr bei der Weihnachtsfeier eine Assistentin namens Jane flachgelegt. Ihre Liebe zu ihm bestand fort, wie man nach Weihnachten an ihrem Gewichtsverlust, ihrer neuen Frisur und ihrer gescheiterten Ehe erkennen konnte. Robert bestand darauf, dass da nie etwas gewesen sei, aber zwei Raucher hatten es gesehen: der eine leibhaftig und der andere auf einem A4-Blatt Kopierpapier.
Charlie aus Govan schmuggelte in seiner Umhängetasche Gin an den Arbeitsplatz.
Charlie aus Govan bezichtigte Jill, seine Vorgesetzte, des Mobbings.
Charlie aus Govan war ein Schwachkopf.
Seine Vorgesetzte auch – und eine Mobberin.
Ach, die Raucher! Was wäre die Arbeit ohne sie? Sie
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