Letzte Beichte
können. Man hatte uns mehr oder weniger von der harten Realität des Alltagslebens abgeschirmt.
Aber jetzt schien einfach keine Zeit mehr zum Entspannen und Zusammensein übrig zu sein. Jeder Morgen war eine einzige hektische Herumrennerei: Frühstück machen, alle anziehen, Mittagsmahlzeiten einpacken. Die Abende fühlten sich oft so an, als ob ein weiterer kompletter Arbeitstag in sie hineingequetscht worden wäre: Kochen, Baden, Waschen, Aufräumen, Robbie ins Bett bringen.
Oft schliefen wir auch schlecht. Anscheinend hatte ich die Zappelfüße meiner Mutter geerbt. Chas schnarchte. Und in den frühen Morgenstunden kroch Robbie immer zu uns ins Bett, drehte sich hin und her und schob uns so lange weg, bis Chas und ich an den äußersten Bettkanten lagen.
Schließlich wachten wir zum Schrillen des Weckers auf, und die ganze Prozedur begann von vorn.
An den Wochenenden war es auch nicht viel besser. Den Großteil des Samstags verbrachten wir damit, uns von der Arbeitzu erholen, und der Sonntag bestand zu einem beträchtlichen Teil darin, der kommenden Woche furchterfüllt entgegenzusehen.
So sehr wir es auch versuchten, wir schafften es nicht, die Arbeit an unserem jeweiligen Arbeitsplatz zurückzulassen. Dauernd musste ich an Jeremy denken, und das Gleiche galt für einige andere anstrengende Fälle, die man mir zugeteilt hatte. Und Chas war immer wie im Tran, mit leerem Gesichtsausdruck und innerlich weit weg, wenn er darüber nachdachte, welchen Pinselstrich, welche Farbe, welchen Rahmen er für eines seiner Bilder verwenden solle. Es dauerte nicht mehr lange bis zu seiner Ausstellungseröffnung, und es war unübersehbar, dass er deswegen ziemlich nervös war.
Manchmal fragte ich mich, ob es für Chas und mich einen Unterschied bedeutet hätte, wenn wir schon ein Paar gewesen wären, ehe das Baby kam. Dann hätten wir zumindest etwas Zeit für uns gehabt. Aber Chas und ich waren ein Paar geworden, als Robbie neun Monate alt war. Chas liebte ihn von ganzem Herzen, aber Robbie war nicht sein Sohn, und unsere Beziehung war in einer häuslichen Routine gefangen, bei der uns wenig Zeit blieb, einander als Menschen – und nicht nur als Eltern – kennenzulernen.
Aber das Besondere an uns – das, was uns von vielen meiner Freunde unterschied, die fremdgegangen waren oder einander Sex und Zuneigung vorenthalten hatten oder sich getrennt hatten oder bloß ununterbrochen übereinander jammerten – war, dass wir miteinander redeten.
Während der Nutellafleck in der Badewanne einweichte, gingen Chas und ich unsere Fehler durch. Als da waren:
Dass ich eine ordentliche Wohnung erwartete, obwohl eine ordentliche Wohnung als Selbstzweck völlig bedeutungslos war.
Dass Chas jede Nacht für seine Ausstellung durcharbeitete, sich in Gedanken dauernd damit beschäftigte, Lampenfieber hatte und sich die ganze Zeit Sorgen machte, ob er je genug verdienen würde, um für uns sorgen zu können.
Dass ich mich zu sehr mit einem meiner Klienten beschäftigte und bei meiner Arbeit Unterstützung brauchte, aber nicht bekam.
Dass Chas sich von der ganzen Orgasmusgeschichte ausgeschlossen fühlte und sich fragte, ob etwas mit ihm nicht in Ordnung sei.
Dass ich glaubte, eine schlechte Mutter zu sein, weil ich nicht rund um die Uhr auf Robbie aufpasste.
Wieder einmal schmiedeten wir Pläne:
Normale Arbeitszeiten von neun bis fünf mussten zur Regel werden, sowohl für Chas als auch für mich. Keine Nachtschichten, keine Ausreden. Die Familienzeit war unantastbar.
Da meine Chefs nie da waren, musste ich mehr mit meinen Kollegen reden.
Chas musste aufhören, sich hinsichtlich meiner maschinellen Orgasmen zu kasteien.
Ich musste aufhören, mir wegen Robbie Vorwürfe zu machen, der vormittags sehr gern in den Kindergarten ging und den Rest des Tages mit Menschen verbrachte, die ihn abgöttisch liebten.
Chas musste die Sorgen über seine Karriere als Maler abschalten, wenn er nicht im Atelier war.
Ich musste endlich eine Putzhilfe finden!
Ich musste mir die Sache mit der Hochzeit erst mal abschminken. Wir waren gerade erst zusammengezogen, und es war besser, einen Schritt nach dem anderen zu machen.
Als wir uns im Bett aneinanderschmiegten, waren wir zuversichtlich, dass Arbeit und Haushaltsprobleme nie wieder die Oberhand über uns gewinnen würden.
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24
Am nächsten Morgen lagen zehn Fälle und drei Gutachten in meinem Fach. Außerdem hatte meine Chefin – frisch zur Arbeit zurückgekehrt – eine Nachricht
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