Letzte Beichte
Sie war mit dem Blatt Papier in der Hand zur Tür hinausgelaufen, ohne die geringste Ahnung zu haben, was sie als Nächstes tun solle. Einige Minuten lang saß sie einfach im Auto und hielt sich an dem Papier und den Worten fest, die ihr sagten, was sie unbedingt wissen wollte.
Dann las sie, was auf dem Blatt stand.
Ihre leibliche Mutter – damals Bridget Garden, heute Bridget McGivern – war bei Amandas Geburt siebzehn Jahre alt gewesen. Über den Vater stand nichts Näheres da. Bridget war einen Meter siebzig groß, genau wie Amanda, und sie hatte rotes Haar. Scheiße. Zum Zeitpunkt von Amandas Geburt hatte sie Medizin studiert. Als sie Amanda zur Adoption freigegeben hatte, wohnte sie in der Wood Street 24 in Ballon. Jetzt wohnte sie in der King Street 87 in Stirling.
Amanda hielt das Stück Papier in der Hand und schaute auf die feinen schwarzen Druckbuchstaben, die ihre Mutter und sie selbst definierten. Kleine schwarze Buchstaben, auf einem Stück Papier zusammengesetzt, um sie zu bedeuten. Sie weinte nicht. Es wäre eine Erleichterung gewesen, aber die Tränen wollten nicht kommen.
Stattdessen fuhr sie los.
Nach Ballon.
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31
Das ist ja prima gelaufen!, dachte ich, ich als ich am Morgen nach der Party auf dem Sofa zu mir kam, und verbarg mein Gesicht in den Händen. Ein paar Leute schliefen auf dem Wohnzimmerboden, der Teppich war voller Rotweinflecke, und überall lagen Zigarettenstummel, halb gerauchte Joints, Flaschen, leere Chipstüten und circa zwanzig Warmhaltepackungen mit halb verzehrtem Lamm Bhuna und Chicken Tikka Masala herum. Von Chas hingegen keine Spur.
Und auch keine Spur von Robbie, den ich um zwölf bei meinen Eltern abholen sollte. Scheiße.
Ich rannte ins Schlafzimmer, wo zu meinem Schrecken zwei nackte Menschen im Bett lagen: Billy Mullen und Marj. Dann rannte ich ins Badezimmer, wo jemand, den ich nicht einmal kannte, gerade ein Bad nahm.
Ich griff mir einige Kleidungsstücke, streifte sie rasch über und fuhr im Taxi zum Haus meiner Eltern.
Ich hasste mich. Das Trinken hatte gezeigt, dass ich ein aggressives, fluchendes Klümpchen Nichts von selbstzerstörerischer Widerwärtigkeit war. Nie wieder würde ich einen Tropfen Alkohol anrühren. Ich war eine Vollidiotin, und ich hatte einen infernalischen Kater, der meine Physis und meinen Intellekt auf Mückengröße schrumpfen ließ.
Als ich bei meinen Eltern die Tür öffnete, beschloss ich, in Zukunft mehr wie sie zu sein: frisch und freundlich, immer ein gesundes Süppchen auf dem Herd. Oder wie Robbie: rotbäckig, unkompliziert, liebenswert.
Mein Vater chauffierte uns zurück in die Wohnung, und ichhoffte inständig, dass mit Ausnahme von Chas niemand mehr da sei.
Gott sei Dank war niemand mehr da, aber leider galt das auch für Chas.
Ich sah den blinkenden Anrufbeantworter und drückte mit einem Anflug von Panik den Knopf.
»K, ich bleibe bis zur Vernissage im Atelier. Wir brauchen mehr Abstand.«
Die Liebe meines Lebens brauchte mehr Abstand. Kein Wunder. Warum sollte er hier sein? Warum sollte er nicht kilometerweit davonlaufen?
Etwas anderes war hier: Auf dem Holzboden im Flur lag ein Umschlag mit Fotos auf DIN – A4-Papier. Fotos von mir auf der Party …
Einen Joint rauchend (wann war das denn gewesen? Ich erinnerte mich nicht mehr daran) …
Danny küssend …
Speed schnupfend …
Unter den Fotos lag ein Brief von Billy Mullen. Billy schrieb:
Hallo, Krissie!
Ich bin froh, dass wir Freunde sind.
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32
Die Fahrt dauerte fünfundvierzig Minuten. Ballon war ein schickes Pendlerstädtchen mit schönen, großen Häusern, in dem es mehr Restaurants als Geschäfte gab. Jetzt, am späten Nachmittag, war der Ort mit Ausnahme einiger Damen beim Kaffeeklatsch wie leergefegt. Amanda wollte das Haus sehen, in dem ihre Mutter gewohnt hatte, als sie sie zur Adoption freigegeben hatte: das Haus, in dem sie hätte aufwachsen können. Die Wood Street verlief parallel zur Hauptstraße, und die Nummer 24 war eine Doppelhaushälfte: ein helles Sandsteinhaus mit einem Garten, der von einer Ansichtskarte zu stammen schien. Die Windfangtüren waren geschlossen: Die Eigentümer, wer auch immer das jetzt sein mochte, waren nicht da.
Hier hatte Amandas Mutter gelebt, als sie siebzehn Jahre alt gewesen war.
Amanda sah sich das Haus an, wie ein Kind ein verpacktes Geschenk ansieht, das es in seinem Versteck unterm Dach aufgespürt hat. Diese Vorhänge hätten ihre Vorhänge sein können, mitsamt ihren
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