Letzte Beichte
Befestigungskordeln und auberginefarbenen Schabracken. Dieses Fenster hätte ihr Fenster sein können; sie hätte sich hinauslehnen und einer Freundin auf ihrem Schulweg »Warte auf mich, warte auf mich!« zurufen können. Dieser Baum hätte ihr Baum sein können: zum Klettern, Verstecken, um heimlich dahinter zu rauchen. Ein Geruch, wie sie ihn nie gerochen hatte, hätte aus der Küche dringen können: der Geruch eines Essens, wie sie nie eines gegessen, auf einem Teller, wie sie nie einen kaputtgemacht hatte. Sie erforschte ihr Parallelleben – das Geschenk, das nie geschüttelt, geschweige denn geöffnet worden war.
Und jetzt kamen die Tränen – das ganze Auto bebte. Da saß sie nun an einem Freitagmorgen allein in einem silbernen Polo in einer Vorortstraße und weinte.
Irgendwann musste sie das Auto gestartet haben, und sie fragte sich, wie es sich von selbst wieder abgeschaltet habe. Hatte sie nicht mehr gewusst, wie man Auto fährt, und es selbst abgeschaltet? Sie war sich nicht sicher. Sie wusste nur, dass sie diesen Ort nicht verlassen konnte, und so blieb sie einfach da. Den ganzen Tag lang saß sie im Wagen, weinte und hörte wieder auf zu weinen, ließ den Wagen an und schaltete ihn wieder ab (oder auch nicht, sie erinnerte sich nicht genau daran). Und sie entdeckte immer neue Kleinigkeiten an dem Haus. Es war fast tröstlich, das leere Haus zu beobachten und sich allerlei Sachen auszumalen.
Und so war sie etwas überrascht, als ein Auto ziemlich rasch auf die Auffahrt glitt und stehenblieb.
Auch ihr Atem blieb stehen.
Gebannt sah sie zu, wie sich die Autotür öffnete und eine Frau ausstieg: eine gutaussehende Frau Ende sechzig, die mehrere Einkaufstaschen trug und Schuhe mit Absätzen, die nicht zum Gehen gemacht waren.
Amanda dachte nicht lange nach, sondern stieg aus dem Wagen und lief auf die Frau zu, die sich mit der Sturmtür abmühte und zweifellos ihre große, elegante Großmutter war.
»Entschuldigung!« sagte sie zu der zu Tode erschrockenen Frau, die die Sturmtür inzwischen geöffnet hatte und sich nun mit der inneren Tür abmühte.
»Meine Güte! Sie haben mich zu Tode erschreckt!«
»Ich will Ihnen nichts verkaufen.«
»Gut«, sagte die Frau. »Ich kaufe auch nichts.«
»Kann ich Ihnen mit den Taschen helfen?«
»Nein.«
»Tut mir leid, es ist nur … Ich heiße Amanda.«
»Ja, und?«
Ich muss damals einen anderen Namen gehabt haben, dachte Amanda.
»Ich bin gestern bei der Familienzusammenführung in Glasgow gewesen, und da hat man mir diese Adresse gegeben.«
Amanda hatte Sätze eingeübt, die sie bei der ersten Begegnung mit ihren Blutsverwandten sagen wollte. Aussagen wie: »Ich bin Ihre Tochter« oder »Sie sind meine Mutter«, oder »Sie haben mich zur Adoption freigegeben …« Auch die möglichen Reaktionen hatte sie sich ausgemalt. Ein Telefon, das aufgelegt wurde. Eine Tür, die man ihr vor der Nase zuknallte.
An dem, was sie gesagt hatte, war nichts Dramatisches gewesen, aber von dem, was nun folgte, hatte sie nur selten zu träumen gewagt. Die Frau ließ ihre Taschen fallen und schlug sich die Hand vor den Mund. Dann packte sie Amanda bei den Schultern und umarmte sie mit aller Kraft. »O mein Gott!« sagte sie, »O mein Gott!«
Sie war willkommen. Alles würde gut werden.
Schließlich löste sich Amanda aus der Umarmung und fragte: »Sind Sie Bridgets Mutter?« In ihren Augen standen Tränen.
»Ja, ja. Ja«, sagte die Frau und hielt Amanda weiterhin halb umarmt. Tränen strömten über ihr Gesicht. »Ich bin deine Großmutter.«
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33
Bridget hatte ein ziemlich trockenes Salami-Hummus-Sandwich gegessen und die Kruste in den Müll geworfen – die Zeit, in der sie sich kindisch und schuldig gefühlt hatte, weil sie keine Brotkrusten mochte, war lange vorbei. Sie war fünfundvierzig Jahre alt, sah aber deutlich jünger aus: rötlichblonde, geglättete Haare und vielleicht ein Hauch von Botox im Gesicht, oder zumindest ein von der Sonne glücklich verschonter Teint. Immer trug sie Kostüme – Röcke mit passenden Hemden und Jacken – und Schuhe mit Keilabsätzen. Sie war schön. Große blaue Augen mit einem Anflug von Traurigkeit, ein Mund mit reichlich Lipgloss und ein schlanker Körper. Ihre Patienten und ihre Kollegen fanden sie attraktiv – Männer wie Frauen.
Bridget wollte gerade einen Schluck von ihrem Orangensaft nehmen, als das Telefon klingelte.
»Mein Gott, Bridget, sie ist hier«, schrie ihre Mutter.
»Was?« fragte Bridget
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