Letzte Beichte
verständnislos.
»Setz dich hin, setz dich«, tönte die überdrehte Stimme ihrer Mutter aus dem Hörer.
»Ich sitze schon. Setz du dich erst mal hin. Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Bridge, du wirst es nicht glauben. Deine erste Tochter stand hier gerade vor Tür, und jetzt sitzt sie am Küchenti…«
Bridget hinterließ einen baumelnden Telefonhörer, einen halbausgetrunkenen Orangensaft und ein Stück krustenloses Salami-Hummus-Sandwich auf ihrem Schreibtisch, rannte aus ihrem Büro, den Gang entlang und auf den Parkplatz des Krankenhauses. Sie nestelte an ihren Schlüsseln herum, startete denWagen und fuhr so schnell sie konnte durch das vertrackte System von Einbahnstraßen in Stirling. Sie schoss an der Universität vorbei, schob sich in Ballon durch einen Verkehrsstau auf der High Street, bog hinter Somerfield links ab und dann rechts in die Wood Street ein.
Beim Einparken warf sie einen raschen Blick auf ihr Bild im Rückspiegel. Mit ihrem Haar (blonder als von Gott gewollt) war alles in Ordnung, und an ihrem Mund hingen keine Sandwichkrümel. Es gab sowieso nichts, womit sie diesen Menschen beeindrucken konnte. Warum also machte sie sich die Mühe, sich anzuschauen?
Wie lange schon hatte sie sich diesen Moment ausgemalt.
Nachdem es passiert war, hätte jedes Kind in jeder Straße ihre Jenny sein können.
Einmal hatte sie in London in einem Bus gesessen und eine Frau gesehen, die mit einem Kinderwagen eine Treppe hinabrumpelte. Sie war nach vorne zum Busfahrer gerannt und hatte ihn gebeten, SOFORT anzuhalten, weil sie ein kurzes Aufflackern von rotem Haar in dem Buggy gesehen hatte und weil das Kind klein war – etwa fünf Monate und drei Wochen alt, genau wie Jenny. Als der Fahrer angehalten hatte, war sie zu dem Buggy gerannt. Einer ihrer Schuhe war dabei auf der Strecke geblieben, und dann hatte sie die Frau am Arm gepackt und angehalten. Als sie in den Kinderwagen schaute, sah sie …
… einen Jungen, der zudem noch viel größer als gedacht war – vielleicht ein Jahr alt. Und die Frau ging einfach weiter mit ihrem sorglosen, kindeserfüllten Leben.
Da war ihre Hochzeitreise nach Prag gewesen, wo ein fünf Jahre altes Mädchen auf der Brücke Modell für ein Porträt gestanden hatte. Aber das Mädchen wollte nicht stillstehen, und Bridget erkannte in den Augen des Kindes etwas von sich selbst wieder. Eine leise Verletzlichkeit, ein Funkeln von Amüsiertheit. Das Mädchen war aus Amerika.
In Glasgow, im Science Centre. Rachel war damals fünf gewesen. Ihre Älteste wäre fünfzehn gewesen. War sie das? Das Mädchen in der schicken Uniform, mit der schlimmen Akne,das hinter einer großen Kindergruppe herschlich, die gerade Notre Dame verließ?
Sie würde es niemals erfahren. Sie konnte nichts tun als warten – und am fünften Mai, jedes Jahr am fünften Mai, konnte sie eine Geburtstagskarte ohne Stempel und Adresse einwerfen: »Für meinen kleinen Rotschopf«. Sie konnte sie in den Briefkasten werfen, zusehen, wie sie verschwand, und fortgehen.
Nacht für Nacht (und vor allem am fünften Mai) fragte sie sich, wo ihre Erstgeborene sei, was sie tue, was sie esse, wer sie liebe. Achtundzwanzig Jahre Warten auf die Ergebnisse einer Biopsie, die Ergebnisse eines Schulabschlusses. Warten darauf, dass aus einer Schwangerschaft ein Menschenleben würde. Warten auf einen Schluck Wasser …
Und jetzt untersuchte sie ihren Mund auf Essensreste, und das Warten schien ein Ende zu haben. Irgendwie. Wie hatte sie es geschafft, diese lange Wartezeit zu überstehen? Wie würde das Leben ohne Warten sein?
Auch Amanda drinnen im Haus kam diese halbe Stunde länger vor als all die Jahre, in denen sie sich gefragt hatte, warum ihre Mutter sie weggegeben hatte. Was hatte sie daran gehindert, sie zu behalten?
Sie saß in der prächtigen Küche ihrer prächtigen neuen Großmutter, schaute auf die Uhr und verfolgte die Bewegungen der Zeiger: die ersten fünf Minuten, die zweiten drei Minuten, die letzten zwei, dann eine. Und auf einmal wurde ein lebenslanger Zweifel durch das Knarren einer Tür und schnelle Schritte auf dem massiven Eichenboden beseitigt. Ihre Umarmung mochte unter Fremden unangebracht sein, aber für sie galten andere Regeln.
Gott, ich danke dir, sagten beide im Stillen während dieser ersten langen Umarmung. Gott, ich danke dir … dass du sie mir zurückgegeben hast.
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Was wäre passiert, wenn ich Billys Brief in den Müll geworfen hätte? Was, wenn ich ihn in kleine Fetzen
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