Letzte Beichte
Jeremy. Wenn sie mit ihm zusammen war, dann war sie glücklich. Und sie hatten jede Menge Spaß miteinander. Aber ihre Heimkehr hatte ihr gezeigt, dass es ganz gut ist zu wissen, wer man ist. Es ist sogar sehr gut. Sie verstand immer noch nicht ganz, wer sie war. Ihre Heirat, ihre Heimkehr, dass sie zum ersten Mal über das Kinderkriegen nachgedacht hatte – das alles hatte in ihr den Wunsch geweckt, mehr über ihre Eltern zu erfahren. Entsprach Wildheit ihrem Naturell oder war sie eine Folge ihrer Erziehung? Hatte sie Geschwister oder Halbgeschwister? Gab es in ihrer Familie psychische Erkrankungen? Hatten alle in ihrer Familie rotbraunes Haar (Gott bewahre, wie Jeremy und sie sich in schöner Offenheit eingestanden hatten)?
Sie wusste bloß, was ihre sehr netten und vernünftigen Eltern zu ihr gesagt hatten, als sie sechs Jahre alt gewesen war: Wir haben dich adoptiert, und wir haben dich deshalb kein bisschen weniger lieb.
Sie hob den Hörer ab und wählte die Nummer.
»Guten Morgen, Familienzusammenführung.«
Diesmal legte sie nicht auf.
»Ich heiße Amanda Kelly«, sagte sie. Unglaublich, sie hatte tatsächlich angerufen! Als sie ihre Situation erklärte, zitterte ihr die Stimme. Und als sie darauf wartete, dass die Sozialarbeiterin den Vorgang prüfte und zurückrief, zitterte sie am ganzen Leib.
Als das Telefon klingelte, sprang sie hoch.
»Am besten kommen Sie vorbei«, sagte die Sozialarbeiterin. »Morgen Nachmittag habe ich noch etwas frei.«
Danach hatte Amanda bei Jeremy angerufen, aber er war nicht dagewesen. Sie wollte ihm alles erzählen. Er wusste sowieso, dass ihr die Sache nicht aus dem Kopf ging, hatte sogar vorgeschlagen, ihr beizustehen, aber als sie seine Festnetznummer wählte, hob niemand ab, und sein Handy schaltete sofort auf die Mailbox um. Bestimmt ist er im Krankenhaus, dachte sie. Verdammt, es hätte ihr wirklich gutgetan, seine Stimme zu hören.
So kam es, dass sie vor dem Termin mit niemandem über ihr Vorhaben sprach. Gegenüber ihren Eltern hatte sie zu große Schuldgefühle. Sie hätten sie nicht davon abgehalten, aber es hätte sie verletzt. Als Amanda vor zehn Jahren einmal beim Abendessen darauf zu sprechen gekommen war, hatte sie ihren Gesichtern angesehen, dass das keine gute Idee gewesen war.
An diesem Abend lag sie lange wach und fragte sich, was dieser Termin für ihr Leben bedeuten könne. Vielleicht gar nichts. Vielleicht alles.
Am nächsten Morgen trank sie drei Tassen starken Kaffee, feilte sich die Nägel und zog sich an. Da Jeremy das Auto genommen hatte, fuhr Amanda mit dem Bus nach Oban. Stundenlang schlängelte sich die Straße an der Küste entlang. Unter anderen Umständen wäre die Aussicht atemberaubend gewesen, aber Amanda hatte für reizvolle Aussichten schon unter normalen Umständen wenig übrig, und an diesem Morgen galt das erst recht. In Oban ging sie zu einer Autovermietung am Stadtrand. Mit jedem Abschnitt der Reise stieg ihr Adrenalinspiegel. Als sie in Glasgow vor dem Büro der Familienzusammenführung ankam, schlug ihr Herz so heftig, dass es wehtat.
Sie stand vor dem großen, hässlichen Verwaltungsgebäude und holte tief Luft. Musste sie wirklich mehr wissen? Was würde sie herausfinden? Wie würde sie sich danach fühlen? Amanda holte noch einmal tief Luft, schob die Fragen beiseite – Fragen, die sie sich im Stillen seit Jahren gestellt hatte – und betrat das Gebäude.
Im Nachhinein machte es sie völlig verrückt, wie leicht das Ganze seit Jahren gewesen wäre. Der Name ihrer Mutter stand in einer Datenbank, und er stand dort, seit Amanda zwölf Monate alt gewesen war. Ihre leibliche Mutter hatte sie schon seit Langem treffen wollen.
Die Beratung war langatmig und belanglos. Eine Sozialarbeiterin informierte sie über die Unterstützung, die man ihr anbieten könne. Sie erklärte, dass Familienzusammenführungen schwierig und verwirrend seien, und legte ihr nahe, sich mit einer Person ihres Vertrauens zu besprechen, ehe sie eine Entscheidung träfe.
»Sie sollten nichts übereilen«, sagte die Sozialarbeiterin und gab ihr Informationsmaterial und Internetadressen. »Denken Sie über alles nach, sprechen Sie mit jemandem und bereiten Sie sich innerlich auf die möglichen Folgen vor.«
Amanda war völlig durcheinander. Alles, was sie von dieser Frau wollte, war der Zettel mit dem Namen und der Adresse ihrer Mutter. Dann wollte sie zur Tür hinausrennen und …
Endlich hatte sie genug genickt und Gelassenheit vorgetäuscht.
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