Letzte Fischer
lebendig begraben, versklavt von Mördern.
Denn die See gehöre niemandem.
Aber jeder Seemann gehöre ihr. Mit Leib und Seele. Mit Leben und Tod. Die See sei die Seele, und die Seele sei die See.
Das System der Billigflaggen habe die moderne Piraterie begünstigt, stellte der Dritte fest, ehe er sich ausmalte, wie es wäre, für immer als Sklave auf einem Piratenschiff zu leben.
›Dann lieber sofort tot‹, dachte er, ›dann lieber gleich tot! – Vielleicht war dieser ehemalige Frachter ja gesunken? Vielleicht wird nun die unauffällige Saudade zum neuen Drogenkurier?‹
Wieder sank der junge Offizier und hielt die Luft an. Zwei Thuns glotzten ihm direkt in die Augen und zupften ihm am Ohr, als er sich wieder nach oben stieß.
Sie waren so ausgekühlt, dass sie die Bisse der hungrigen Fische gar nicht mehr bemerkten. Sie wunderten sich zwar über die warme Flüssigkeit, die nach oben stieg, aber ihre Gehirne waren so sehr auf Minimalleistung geschaltet, dass sie nicht begriffen, dass es das eigene Blut war, das ihnen das Gesicht wärmte. Sie hörten dieses harte Geräusch im Inneren, das ihre Zähne schmerzhaft verursachten. Die Körper warnten mit allem, was sie hatten, aber den Hirnen fiel nichts ein. Die Hochseefischer, die härter als andere Männer arbeiten konnten, die Orkanen getrotzt hatten, die walgroße Fänge mit bloßen Händen aufs Heck ziehen konnten, die im Sekundentakt dreißig Kilogramm schwere Thuns stemmen und ausweiden konnten, wurden müde und müder. Und er trug die Verantwortung. Er war zum Kapitän geworden, und damit hatte er die wichtigste Pflicht übernommen: Er musste die Leben seiner Männer retten. Er musste!
Der Dritte räusperte sich und befahl mit heiserer Stimme und mit zitternden Lippen: »Durchzählen!«
›Sie gehorchen, wenn auch nur mühsam‹, freute er sich, ehe er erschrak, hatte das Durchzählen doch nur eine knappe Minute gedauert.
Von der einhundertsechsundsiebzig Mann starken Besatzung meldeten sich noch sieben Männer: Kroatischer Riese , Ismael, Opernsänger , Robert Rösch, Knirschender , der indische Zahlmeister und er selbst sagte schließlich: »Dritter Offizier des Trawlers Saudade , ehemals Fang- und Verarbeitungsschiffes ROS 317 Junge Garde . Unentschuldigt fehlen uralter Richard und der Funker.«
Alle anderen Männer waren lautlos gestorben und zum Fraß der gefangenen Thuns geworden. Niemand von ihnen habe gejammert, getobt oder geschrien, ging es Robert durch den Kopf: ›Sie haben das Sterben als bisher größtes Abenteuer genommen, diese verrückten Peter Pans. – Sie haben echte Kerls gespielt. Und verloren.‹
Er versammelte sich mit den anderen Überlebenden zu einem Kreis. Sie wärmten sich gegenseitig, so gut sie konnten.
Opernsänger flüsterte zähneklappernd: »Die glorreichen Sieben , über die wollte ich auch mal eine Oper schreiben.«
»Wirst du!«, sagte Robert: »Nur wird es eben keine Westernoper werden.«
»Genau«, meinte der nackte Ismael, der glaubte, seine ganze Haut sei dunkelblau geworden. Er wollte aber nicht sterben! Verdammt noch mal, er wollte es einfach nicht! Er wollte Geld verdienen, schnell viel Geld, mehr wollte er gar nicht. Was sollte daran denn falsch sein? In seinem Kopf ging alles drunter und drüber, eine lange Reihe von Bildern, die einfach nicht aufhörte. Es waren lauter Bilder aus seinem eigenen, kurzen Leben. Ismael begriff sie nicht mehr. Die Abfolge wurde immer schneller, und immer heller wurden die Bilder; immer milchiger.
Der Dritte sagte: »Es wird eine Fischeroper! Die beste Fischeroper, die die Welt je gehört hat! – Und wir werden bei jeder verdammten Vorstellung in der ersten Reihe sitzen und sehen, wie die Schauspieler beim Singen spucken! Das wird lustig!«
»Es wird die erste Fischeroper überhaupt«, meinte Opernsänger : »Die erste, die beste und zugleich auch die letzte!«
Er dachte: ›Nur, wer sie schreiben soll, das weiß allein das Altwasser.‹
Knirschender legte sich erneut auf den Rücken, so dass sein dicker Bauch aus dem Wasser ragte. Er sagte zum jungen Ismael: »Los, Junge, leg deinen Kopf auf meinen Bauch! Ich kann gar nicht untergehen, mach schon, bevor ich es mir anders überlege.«
Ismael, im Begriff zu sinken, spürte eine Hand in seinen Haaren. Er merkte, wie er gezogen wurde, wie sein Kopf und sein Oberkörper auf irgendetwas gelegt wurde, doch sprechen konnte er nicht mehr. Er röchelte. Die Bilder waren jetzt nicht mehr milchig. Sie waren auch gar nicht mehr
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