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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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eigentliche Fach für diesen Kunstzweig, die Blumen, worin er, was sich nur als möglich denken lässt, erreicht hat, häufig die feinsten und zartesten Teile der Blüten und Pflanzen mit dem edelsten Geschmack nachbildend, z.B. auf Spaziergängen gleichsam botanisierend, und den Gegenstand bis zur Wurzel hinab verfolgend, übte; man glaubte fast die Gewächse sich bewegend und mit ihren Farben zu sehen.
    . . . anfangs zum Aufkleben als Tapetenborde in einem Zimmer bestimmt gewesen. Er fertigte dergleichen in den zerstreuendsten Momenten, sich dabei über jeden anderen unterhaltend, und das entstehende Gebilde schien sich bei dieser gleichsam plastischen Kunstübung fast wie selbsttätig unter der Schere in seiner Hand zu bewegen.
    . . . Zu den Anfängen der bildnerischen Tätigkeit zählt Daniel auch das ›Zeichnen von Schattenrissen‹ in den späten achtziger Jahren. Runge nimmt damit an der bürgerlichen Silhouettierwut teil, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz Europa ergriff. Etienne de Silhouette, der Finanzminister Ludwigs XV., sah in der Portraitminiatur ein Luxusobjekt, weshalb er den sparsamen Schattenriss propagierte. So wurde er zum Namensgeber der Bildgattung.
    . . . Das Umrissbild gewinnt seine Verlässlichkeit von einem Verfahren, welches die älteste Technik der visuellen Dokumentation, den Abklatsch, weiterentwickelt. (Plinius sah im Schattenriss den Anfang der Malerei und der Portraitplastik: ›Die Tochter des sikyonischen Töpfers Butades malte den Schattenriss ihres scheidenden Geliebten bei Licht an eine Wand, ihr Vater belegte den Umriss mit Ton, brannte das dadurch entstandene Tonrelief und erhielt so die erste Plastik.‹) Der Zeichner nimmt den auf den Bildträger geworfenen Profilschatten des Modells ab und verkleinert ihn mit Hilfe des Storchenschnabels oder eines Rasters auf das gewünschte Miniaturformat.
    . . . Lavater nannte den Schattenriss ›das schwächste, leerste, aber zugleich das wahrste und getreueste Bild, das man von einem Menschen geben kann.‹
    . . . am Rande des schwarzen Flächenkontinuums weiß Runge zarte, durchbrochene Kunstgebilde, Schleier, Schleifen, oder Rüschen. Darin bekundet er sein frühes Interesse am zierlichen, schmückenden Beiwerk.
    . . . Aus dem Orient kommend, war der Papierschnitt schon im 17. Jahrhundert in Deutschland heimisch geworden. Aus hellem Papier oder Pergament wurden ornamentale Erfindungen, Landschaften und Genreszenen geschnitten, in den Klöstern machte man kleine Andachtsbilder. Mit der Verbreitung der Bildnissilhouette wich das helle dem dunklen Papier.
    . . . gemeinsamen Ursprung anzutreffen: der bürgerliche Alltag und die Natursymbolik.
    . . . und aus der Gestensprache der Schattentheater bezogen haben.
    . . . Die ersten Blumenzeichnungen zeigen die ›Pflanze als Einzelgewächs‹. Dieses Isolieren ist nicht unbedingt als künstlerischer Entscheidungsakt zu sehen: die Kenntnis botanischer Sammelwerke könnte es ihm nahe gelegt haben. Hier, in der nachsichtigen Wiedergabe eines in sich ruhenden Gebildes, ist Runges Hand sicherer als im Umgang mit den körperlichen Verwicklungen der Menschengestalt, hier zeigt sich auch seine Fähigkeit, organische Vielfalt überschaubar zu machen. Die Blumenschnitte, in Daniels Urteil das ›eigentliche Fach‹ des Scherenschnitts, schließen sich wahrscheinlich an die Genregrenzen an.
    . . . Später dürfte Runge sich ganz auf den Blumenschnitt konzentriert haben. Sein Ruf auf diesem Gebiet erreichte auch Goethe, der ihn am 2. Juni 1806 um eine Bildnissilhouette und einige ausgeschnittene Blumen bat. Am 17. September antwortete Runge, zu einem Portrait fehle ihm die Zeit, weshalb er bäte, mit einer Zeichnung vorlieb zu nehmen. Nichts zeigt deutlicher, dass für Runge Zeichnung und Schattenriss einander ebenbürtig waren.
    . . . Alles das wird von einer geschmeidigen Linearität zusammengehalten und auf einen Flächenrhythmus gebracht.
    Werner Hofmann.«
    Verwirrt, sich aber irgendwie gehoben fühlend, blätterte Mathilde weiter. Sie sah sechs Schattenrissbilder, die die Familie Runge darstellten, Tierszenen, spielende Katzen, Kinderszenen, Balgereien, einen Reiter, einen Knochenmann mit Sense vor einer Frau, und dann sah sie den weißen Scherenschnitt auf grauviolettem Papier, der einfach nur mit ›Sommertag‹ betitelt war.
    Welcher Wahnsinn! Mathilde beugte sich vor und musterte die beiden hohen Bäume aufs Genauste, unter denen sich winzige Pferde, spielende Kinder und

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