Letzte Haut - Roman
angeklagt sei. SS Sondergerichte, von denen hatte man gehört, ja, sie existierten wohl, aber sie bestanden doch nur auf dem Papier! Aber hier und jetzt gab es plötzlich sogar ein SS Gericht mit dem ominösen Beinamen ‚zur besonderen Verfügung‘! Zur wessen Verfügung? Die Männer wussten, wenn etwas so lapidar umschrieben werde, dann handele es sich dabei stets um eine sehr gefährliche Waffe.
Niemand von ihnen verstand den Reichsführer, der dies alles zuließ, und alle grüßten den Obergruppenführer Erbprinz Waldeck Pymont, als er ins Gebäude kam und kaum Notiz von den Offizieren nahm. Er war der ranghöchste Offizier hier, und er selbst vertrat die Anklage, und er freute sich darauf.
Britische Bomber flogen über Weimar hinweg Richtung Dresden, während Schmelz, ohne sich auf ein weiteres Geplänkel einzulassen, an den Grüppchen der Waffen SS Offiziere vorbeiging, die es vermieden, von Koch und dem Prozess zu reden, sobald er an ihnen vorbeikam. Sie wussten sich zwar alle von Obergruppenführer Pohl, Chef des Verwaltungs- und Wirtschaftshauptamtes, gekauft und in dessen Bestechungsnetz verstrickt, doch nun hatte dieser Ermittlungsrichter Doktor Schmelz sie aufgeschreckt, viel mehr aufgeschreckt als die Versenkung des Schlachtschiffes Tirpitz an der norwegischen Küste vor gut zehn Tagen. Die Tirpitz, das letzte große Symbol der deutschen Marine, das den wiederholten See- und Luftangriffen in den Monaten April, September und Oktober standgehalten hatte, war Mitte November nach einer Explosion, die einen der Geschütztürme niedergerissen und die Backbordseite eingedrückt hatte, gesunken. Damit hatte die deutsche Marine aufgehört zu existieren, und auch Doktor Schmelz war der Untergang nahegegangen.
Er blieb vor der Tür zum Verhandlungssaal stehen, die von vier Scharführern mit entsicherten Gewehren bewacht wurde.
„Halt!“, sagte einer von ihnen: „Unter Ausschluss der Öffentlichkeit! Einlass nur mit Sondergenehmigung des Reichsführers SS!“
„Haben wir“, sagte Hauptsturmführer Schmelz.
„Legitimieren Sie sich!“
„Ermittlungsrichter Doktor Kurt Schmelz, Hauptbelastungszeuge der Anklage im Prozess. Das ist Kriminalobersekretär Doktor Tarnat, ebenfalls Zeuge der Anklage, so wie Kriminalsekretär Liebig! Treten Sie zur Seite, Scharführer!“, sagte der Hauptsturmführer und ging einen Schritt auf die Wache zu.
Der Scharführer überprüfte die Angaben auf einem Zettel, den er aus der Jackentasche gezogen hatte, hakte die betreffenden Namen ab, nickte seinen Kameraden zu und ließ die Ermittler passieren.
Sie schlossen die Tür hinter sich und traten an den Tisch, der seitlich des Eingangs stand. Ein Standartenoberjunker reichte ihnen eine Liste, in die sie gewissenhaft Namen, Geburtsdatum, Dienstrang in der Waffen SS, Personalnummer der Waffen SS, Personalnummer der Partei und die letzte Anschrift eintrugen, bevor sie dies mit der Unterschrift bestätigten. Der Standartenoberjunker überprüfte die Angaben mithilfe der mitgeführten Personalpapiere und zeichnete ebenfalls gegen, eher sagte: „Die Zeugen der Anklage nehmen dort hinten Platz. Bitte vermeiden Sie laute Gespräche und Gefühlsausbrüche während des gesamten Prozesses, der auf zwei Tage angesetzt ist. Zuwiderhandeln hat ernsthafte Konsequenzen und kann einem Meineid ähnlich geahndet werden.“
„Ganz was Neues!“, erwiderte Schmelz: „Auf welche Anordnung hin? Oder ist das ein neuer Gesetzesanhang?“
„Das ist auf Anordnung des vorsitzenden Richters, Chefrichter Ende, so ausgegeben“, sagte der Standartenoberjunker, ehe er sich anderen Eintretenden zuwandte: „Das Eintragen in diese Liste ist für alle Anwesenden verbindlich.“
„Arschgeige“, flüstere Liebig, als sie sich ein wenig entfernt hatten. Sie schlenderten die Bankreihen entlang, die alleine den Besuchern vorbehalten waren, inspizierten die Plätze der Verteidigung, die der Anklage und den Richtertisch, an dem Doktor Kurt Schmelz kurz stehen blieb und versonnen lächelte.
Er sagte: „Sowieso.“
„Wie bitte?“, fragte Tarnat.
„Ach, nichts!“
Es war ein Barocksaal, der fast zweihundert Beobachter fassen konnte. Die Besucherreihen standen im Halbkreis und nach hinten hin erhöht. Das Areal vor dem sechzehn Meter langen und vier Meter breiten Richtertisch war rund und hatte einen Durchmesser von zwölf Metern. An den Seiten wurde es von den Plätzen der Anklage und jenen der Verteidigung begrenzt, wodurch ein völlig umschlossener
Weitere Kostenlose Bücher