Letzte Nacht
klar, dass keiner auf das Lobster aufpasst, und einen Augenblick gerät er in Panik und stellt sich vor, wie ein Dieb in die Kasse greift oder, was wahrscheinlicher ist, ein älteres Paar am Empfangspult wartet. Aber als er sieht, wie alle mit anpacken, denkt er, dass es schon in Ordnung ist. Dass sie alle zusammen hier sind, ist wichtiger.
Das verleiht ihm neuen Schwung für die Arbeit, als sie wieder reinmarschieren, mit den Füßen aufstampfen, ihre Sachen hinten im Flur aufhängen und eine Weile die beiden aufgeschlitzten Lederjacken anstarren. Sie versammeln sich in lockerem Kreis um die Kaffeetheke. Die Pause ist schon seit zwanzig Minuten vorbei, also dürften alle wissen, was kommt.
«Okay», sagt er und blickt ihnen in die Gesichter. Ohne den Lärm des Radios und der Geschirrspülmaschine kommt er sich vor wie auf einer Bühne. «Wir bereiten uns wie immer aufs Abendessen vor, aber wir gehen die Sache locker an. Roz und Jacquie, lasst uns Orange und Rosa herrichten. Wenn nötig, können wir noch Gelb dazunehmen.» Sie nicken, als würde das einen Sinn ergeben.
«Ty, Rich, Leron, tut so, als hätten wir die Mittagsschicht an einem normalen Wochentag. Beilagen dürften wir schon genug haben, nicht wahr?»
«Jawohl, Chef», sagt Ty.
«Jetzt hör doch auf, Mann», fleht Manny geradezu, denn es ist wichtig, dass Ty die Sache ernst nimmt.
«Die reichen.»
«Okay», sagt Manny etwas lauter, klatscht einmal in die Hände und schickt alle los – alle bis auf Ty, der dasteht, als hätte Manny irgendetwas vergessen.
«Ich warte immer noch auf die Nummer.»
«Kannst es ja probieren», sagt Manny schulterzuckend und holt die Nummer auf sein Handy. Ty schaut aufs Display, wählt die Nummer und zieht sich zur Laderampe zurück, dem einzigen Ort, wo sie Empfang haben.
Manny sieht, dass er vor einer Stunde von Deena eine Voice‐Mail bekommen hat. Er verzieht sich in den Lagerraum, um sie sich anzuhören, auch damit er Ty nicht hört.
«Hey», sagt Deena und macht eine Pause. «Wollte nur mal hören, was los ist. Wahrscheinlich arbeitest du. Hier schneit’ s ziemlich stark. Die Leute werden aufgefordert, nicht mit dem Auto zu fahren.» Den Kopf gesenkt, lehnt er sich an ein Regal und merkt plötzlich, dass sich links von ihm das Licht verändert und ein dunkler Schatten in der Tür steht – Jacquie, die nach Zuckertütchen sucht. Er winkt mit der freien Hand, doch sie hat sich schon abgewandt. «... schwerer Unfall auf der 95, aber bis morgen dürfte alles wieder okay sein. Ruf zurück und sag Bescheid, wann du hier bist. Ich will einen Baum besorgen. Und fahr vorsichtig. Okay, bis später.»
Als er rauskommt, knallt Ty gerade einen Kochtopf auf die Herdplatte.
«Hattest du Glück?»
«Nee. Hast du seine Adresse?»
«Nein», sagt Manny.
«Dann kannst du ruhig die Polizei verständigen.»
Manny ruft an, streckt den Kopf zur Hintertür raus und gibt alle Informationen. Die Frau in der Zentrale klingt unbeeindruckt, als würde er ihre Zeit vergeuden.
«Bei dem Wetter können wir uns im Moment nicht darum kümmern. Ist morgen jemand da?»
«Ja, ich», sagt Manny und steckt das Handy in die Tasche.
In einer Küche geht es um das richtige Timing, alle müssen im selben Tempo arbeiten. Am schwersten ist es, bei Null anzufangen. Wie immer versucht Manny, mit gutem Beispiel voranzugehen. Er schaltet das Radio an, stellt sich Schulter an Schulter mit Leron und spießt Knoblauchshrimps auf, obwohl er eigentlich vorn den Weg freifräsen müsste. An jedem anderen Tag würde er diese Flaute genießen, die Küche ein warmer Kokon gegen das schlechte Wetter, und er findet es schade, sich dieses Gefühl von allem anderen verderben zu lassen.
Die Marinade ist glitschig, und ein Shrimp flutscht Manny aus der behandschuhten Hand und landet auf dem sauberen Edelstahl, wo er einen schmierigen Fleck hinterlässt. Manny wirft ihn in den Abfall und wischt den Tisch mit einem Lappen ab. Leron arbeitet einfach weiter, sticht und stochert behände und stapelt seine fertigen Spieße in ihrem gemeinsamen Speisenwärmer.
Manny kommt wieder in den Rhythmus, versucht, mit Leron mitzuhalten, strengt sich an und schafft es auch eine Weile, fällt aber schließlich zurück. Leron lässt sich nicht anmerken, ob er es mitbekommen hat, aber es kann ihm nicht entgangen sein. Manny betrachtet sein blaues Auge, die obere Wange gequetscht und geschwollen, und fragt sich schon zum zehnten Mal an diesem Tag, was Leron hier macht. Er
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