Letzter Kirtag: Ein Altaussee-Krimi
Mund hatte aufmachen müssen. Fast fürchten konnte man so eine Frau, auf jeden Fall war es vernünftig, sie nicht zur Feindin zu haben.
„Christine.“ Gasperlmaiers Stimme brach heiser. „Da ist noch was.“ Und nun begann Gasperlmaier zu erzählen, die Worte begannen zu fließen und er erzählte der Christine alles, was er an diesem Morgen angestellt hatte, wie er den Doktor Naglreiter tot vorgefunden hatte, wie er vor lauter Angst, der Kirtag möge wegen des Todesfalls ein vorzeitiges Ende nehmen, den Doktor ins Gebüsch hatte zerren wollen, von dem Brauereilaster jedoch unterbrochen worden war und den toten Naglreiter schließlich im Pissoir hatte deponieren müssen. Fast flehentlich sah er die Christine an. „Was mach ich jetzt nur? Was soll ich tun?“ Gasperlmaier vertraute seiner Christine so blind, dass er sich nicht einmal vorstellen konnte, dass sie keinen Ausweg aus dieser Situation wusste.
Die Christine aber zog den Arm hinter seinem Rücken hervor, richtete sich kerzengerade auf und sagte nur: „Für so blöd hätte nicht einmal ich dich gehalten.“ Gasperlmaier wusste, dass die Christine sich lange Vorträge voller Vorwürfe und „hättest du“ und „wäre gewesen“ und so weiter, dass sie sich solche Vorträge grundsätzlich ersparte. Die Zeit, die sie so einsparte, widmete sie einem vorwurfsvollen Schweigen, das das Opfer noch viel mehr zermürbte als die ausdauerndste Tirade, die man sich nur vorstellen mochte.
Nachdem sie Gasperlmaier minutenlang auf diese Weise gequält hatte, während er, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, auf ein Urteil wartete, ließ die Christine ihren ausgestreckten Zeigefinger durch die Luft fahren und sagte: „Du weißt, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt?“ Gasperlmaier war verwirrt. Darüber, wie viele Möglichkeiten es gab, aus diesem Schlamassel herauszukommen, hatte er sich bislang nicht den Kopf zerbrochen. „Du kannst es der Frau Doktor gestehen, oder du kannst es für dich behalten.“ Eine so einfache Alternative hatte Gasperlmaier jetzt nicht erwartet. „Du musst dir nur der Konsequenzen bewusst sein, die es für dich hat. Ob du es nämlich sagst oder nicht, beides kann dich den Kopf kosten.“ Vor Gasperlmaiers innerem Auge entstand ein Bild, in dem ihm eine vage der Frau Doktor ähnliche Person in schwarzem Leder mit einer riesigen Axt gegenüberstand, während er mit entblößtem Hals auf die Vollstreckung des Urteils wartete. Es gab zwei Möglichkeiten, und beide führten ins Verderben? Christine fuhr fort: „Wenn du der Frau Doktor gestehst, hat sie zwei Möglichkeiten.“ Gasperlmaier wurde schwindlig ob all der Möglichkeiten. Gab es nicht eine einfache Lösung? „Sie kann es für sich behalten und damit selber ein Risiko eingehen. Sie kann alles offenlegen und dir damit die Hölle heißmachen. Du musst überlegen, wie du sie einschätzt. Wenn sie dich schützt, dann sag es ihr. Wenn sie alles öffentlich macht, zerreißen dich deine Vorgesetzten und die Medien. Überleg es dir gut. Ich halte auf jeden Fall zu dir.“ Gasperlmeier wurde bewusst, wie sehr er sich bisher bemühen hatte müssen, die möglichen Folgen seines Handelns zu verdrängen. Er musste sich eingestehen, dass er schwierigen Situationen begegnete wie ein Kind: verstecken, solange es ging, gestehen, wenn es nicht mehr zu vermeiden war, ein Donnerwetter über sich ergehen lassen, und danach war alles wieder gut. Leider, musste Gasperlmaier sich jetzt eingestehen, lief es in Wirklichkeit meist nicht so, wie sein kindliches Gemüt es ihm vorgaukelte.
Vor lauter Unentschlossenheit und Verwirrung wagte Gasperlmaier einen Ausbruchsversuch in eine unerwartete Richtung, um sich Luft zu verschaffen. Ob er die Christine in die Defensive hatte drängen wollen oder ob es eine Verzweiflungshandlung gewesen war, wusste er später nicht mehr zu sagen. „Im Bierzelt, da war einer, der hat behauptet, dass du mit dem Doktor Naglreiter …“ Weiter kam Gasperlmaier nicht, denn es traf ihn ein so vernichtender Blick – noch dazu mit hochgezogenen Augenbrauen –, dass er augenblicklich verstummte. „Ich hab ihm gleich mein Bier ins Gesicht geschüttet!“, beeilte sich Gasperlmaier hinzuzufügen, in der Hoffnung, seine wehrhafte Haltung im Augenblick der Demütigung seiner Frau möge ihm mildernde Umstände verschaffen.
„Franz“, sagte die Christine nur, doch Gasperlmaier wusste, wenn sie ihn mit seinem Vornamen anredete, dann war die Situation eigentlich schon
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