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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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nicht zum ersten Mal, er wusste genau, wie viel er in den Umschlag stecken musste.
    Er überreichte Shah das Kuvert, der das Gewicht abschätzte und guthieß, bevor er den Umschlag dem Polizisten weitergab, der das Reden übernommen hatte.
    «Für
chai
und kalte Getränke bei Ihnen auf der Wache, mein Freund. Es ist ziemlich heiß dieser Tage.»
    Obwohl der Umschlag angenommen worden war, ging noch keiner der Polizisten. Der Redselige sagte: «Meine Tochter hat bald Geburtstag, Sir. Es wird ein nettes Wochenende für mich.»
    «Ich lasse ihr aus dem Taj-Hotel eine Geburtstagstorte schicken. Die haben dort eine gute Konditorei. Sie müsste schon auf dem Weg sein.»
    «Sir», der schweigsame Polizist ergriff das Wort.
    «Ja?»
    «Tja, meine Tochter hat auch bald Geburtstag. Und es ist Wochenende.»
    Giri führte die Polizisten mit einem Lächeln hinaus; Shah stand da und schob den dicken Goldring auf seinem Zeigefinger hin und her. In dem Augenblick, in dem Giri die Tür schloss, als bewegten Herr und Diener denselben Muskel, schlug Shah seinem Sohn mit dem Ring auf die Nase.
    «Sprudel» zuckte zusammen, presste die Augen fest zu und wandte das Gesicht ab, als wollte er die Wucht des Schlages konservieren.
    Sprudel zitterte; wenn er könnte, das sagte seine Körpersprache, würde er sich auf seinen Vater stürzen und ihn auf der Stelle töten.
    Giri führte ihn auf sein Zimmer. «Lass uns dein Gesicht waschen, Baba. Wir gehen in dein Zimmer und trinken ein Glas warme Milch. So machen wir das.»
    Bei seiner Rückkehr in das Wohnzimmer begutachteten sein Arbeitgeber und Shanmugham links und rechts des Tanzenden Natarajas ein weißes Ding, das auf dem Holztisch vor der Bronzestatue stand: das Gipsmodell eines Gebäudes, das einer vonMr Shahs Büroboten vor zwei Tagen in die Wohnung gebracht hatte.
    «Werden Sie mit dem Jungen reden?», fragte Giri. «Sagen Sie etwas Nettes.»
    Shah fuhr mit der Hand über das Gipsmodell.
    «Bring mir einen Teller mit Toast, Giri», sagte er. «Sofort. Und auch einen für Shanmugham.»
    Auf seinem Weg in die Küche starrte Giri Shanmugham finster an; er hielt nichts von der Anwesenheit von Angestellten während der Mahlzeiten.
    Shah fuhr fort, das Gipsmodell zu betrachten. Seine Augen wanderten zur Inschrift auf dem Sockel.
    CONFIDENCE SHANGHAI
VAKOLA, SANTA CRUZ (OST)
LUXUSAPARTMENTS
«VON MEINER FAMILIE FÜR IHRE FAMILIE»
    «Schau dir das an, Shanmugham», sagte er. «Schau dir das bloß mal an. Wird das nicht wunderschön sein, wenn es fertig ist?»
    Von dem Moment an, als das Auto über die Brücke nach Bandra fuhr, hielt Shah die Augen geschlossen.
    Er fühlte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte. Seine Lungen atmeten freier. Es war, als hätte er seit Jahren nicht mehr gehustet.
    Der Mercedes hielt, er hörte, wie jemand die Tür für ihn öffnete.
    «Sir.»
    Er stieg aus, hielt Shanmughams Hände fest. Er hielt die Augen noch immer geschlossen. Er wollte das Vergnügen so lange wie möglich auskosten.
    Er konnte die beiden schon hören: Confidence Excelsior undConfidence Fountainhead. Sie rumpelten so, wie der Junge im Bauch seiner Mutter in den letzten Monaten vor der Entbindung gerumpelt hatte.
    Er ging über die Spurrillen von Lastwagen, die verhärtet und starr wie versteinerte Rückenwirbel waren. Unter den Füßen spürte er zermahlenen Granit, der in weichen, von Ziegelbröckchen durchsetzten Sand überging. Der Lärm wurde lauter.
    Er öffnete die Augen.
    Betonmischmaschinen drehten sich wie auf beide Gebäude gerichtete Kanonen; Frauen in bunten Saris trugen mit nassem Mörtel gefüllte Tröge die Treppen vom Fountainhead hinauf. Ein Stück die Straße hinab erblickte er das Excelsior, dessen Skelett noch deutlich zu sehen und mit Netzen und Gerüsten bedeckt war; rippengleich stützten dunkle Holzbalken die noch unausgebauten Stockwerke.
    Um die Baustelle herum war ein kleines Dorf aus dem Boden gewachsen; die Arbeiter, Zuwanderer aus Nordindien, hatten sich häuslich eingerichtet. Kühe schlugen mit ihren Schwänzen nach Fliegen, in einem Aluminiumgefäß kochte Brühe über, dort der schmale Schrein eines roten Gottes. Shah raffte seine Hose und ging zur Kuh hinüber; damit ihm das Glück hold blieb, berührte er ihre Stirn dreimal, dann die eigene.
    Eine Gruppe Tagelöhner wartete auf ihn.
    «Wie lässt sich heute der Beton gießen?», fragte er.
    «Sehr gut, Sir.»
    «Warum steht ihr dann herum und vergeudet Zeit?»
    Er zählte die Männer. Sechs. Sie

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