Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
zuckte mit den Achseln. »Ja und nein.«
»Häh?«
»Wenn du uns hilfst, dann ja. Sonst nein.«
In Jodies geröteten Augen bildeten sich Tränen. Er schien von Angst zerfressen zu sein. In den Jahren seit seinem Unfall hatte Rhyme oft Angst um andere gehabt -um Amelia, Thom und Lon Sellitto. Aber er selbst hatte nie Angst vor dem Sterben gehabt -vor allem nicht nach seinem Unfall. Er fragte sich, wie es sein mußte, in ständiger Angst zu leben. Das Leben einer Maus.
Zu viele Möglichkeiten zu sterben...
Sellitto schlüpfte wieder in die Rolle des netten Bullen und lächelte Jodie freundlich an. »Du warst doch dabei, als er den Polizisten dort im Keller getötet hat, stimmt's?«
»Yeah, ich war dabei.«
»Dieser Mann könnte jetzt noch leben. Und Brit Hale könnte noch leben. Und eine ganze Reihe anderer Menschen könnte ebenfalls am Leben sein, wenn uns schon vor ein paar Jahren jemand geholfen hätte, dieses Arschloch zu schnappen. Nun, du kannst uns helfen, ihn jetzt zu schnappen. Du kannst Percey das Leben retten und vielleicht noch einem Dutzend weiterer Menschen. Du kannst das tun.«
Sellitto stellte wieder einmal seine Genialität unter Beweis. Rhyme hätte das kleine Aas eingeschüchtert, bedroht oder bestochen. Aber er wäre nie auf die Idee gekommen, an den Rest von Anstandsgefühl zu appellieren, den zumindest der Detective noch in ihm vermutete.
Jodie ließ geistesabwesend seinen schmutzigen Daumen über die Seiten seines Buches gleiten. Schließlich blickte er auf und erklärte mit überraschender Nüchternheit: »Als ich ihn mit zu mir genommen habe, in die U-Bahn, da habe ich ein paarmal dran gedacht, ihn in einen der Abwasserkanäle zu stoßen. Das Wasser rauscht da unten ganz schön schnell. Hätte ihn direkt in den Hudson gespült. Hab auch an diese Haufen mit Spurstangen gedacht. Ich weiß, wo die liegen. Ich hätte eine greifen können und ihm damit von hinten den Schädel einschlagen können. Ich hab wirklich darüber nachgedacht. Wirklich. Aber ich hatte Schiß.« Er hielt das Buch hoch. >»Kapitel drei. Stelle dich deinen Dämonen.< Ich bin immer davongelaufen. Ich hab mich nie einem Problem gestellt. Ich dachte, ich könnte mich ihm stellen. Aber ich konnte es nicht.«
»Hey, dann ist jetzt deine Chance«, sagte Sellitto.
Jodie blätterte wieder durch die abgegriffenen Seiten. Seufzte. »Was soll ich denn tun?«
Dellray zeigte mit seinem überraschend langen Daumen nach oben. Sein Zeichen der Zustimmung.
»Dazu kommen wir gleich«, sagte Rhyme und blickte sich dabei im Zimmer um. Plötzlich brüllte er. »Thom! Thom! Komm her. Ich brauche dich.«
Das gutgeschnittene, erschöpft wirkende Gesicht des Adlatus blickte um die Ecke.
»Jaah?«
»Ich bin in eitler Stimmung«, verkündete Rhyme dramatisch.
»Was?«
»Ich fühle mich eitel. Ich brauche einen Spiegel.«
»Du willst einen Spiegel?«
»Einen sehr großen. Und würdest du mir bitte die Haare kämmen. Ich bitte dich immer wieder darum, und du vergißt es ständig.«
Der Lieferwagen von U.S. Medical and Healthcare fuhr auf das Rollfeld. Die beiden weißgekleideten Angestellten, die menschliche Organe im Wert von einer Viertelmillion Dollar durchs Land kutschierten, zeigten keinerlei Gefühlsregung, als sie die vielen Bullen mit ihren Maschinengewehren sahen.
Sie zuckten nur ein einziges Mal zusammen, als King, der riesige Schäferhund der Bombenentschärfungseinheit, ihre Kisten nach Sprengstoff abschnüffelte.
»Ähm, ich würde auf den Hund achtgeben. Ich vermute, daß es für so einen Hund keinen Unterschied macht. Für den ist doch eine Leber wie die andere und ein Herz wie das andere.«
Aber King verhielt sich wie ein Profi und gab die Ladung ohne Probleme frei. Die Männer trugen die Kisten an Bord und packten sie in die Kühltruhen. Percey kletterte ins Cockpit, wo bereits Brad Torgeson saß. Der rotblonde junge Pilot, der gelegentlich bei Hudson Air aushalf, prüfte gerade routinemäßig die Instrumente.
Sie waren bereits beide zusammen die Maschine abgelaufen und hatten sie abgenommen. Dabei waren sie von Bell, drei weiteren Polizisten und King begleitet worden. Es hatte praktisch keine Möglichkeit für den Tänzer gegeben, an das Flugzeug heranzukommen. Aber da er inzwischen den Ruf hatte, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen, hatten sie die wohl gründlichste Kontrolluntersuchung in der Geschichte der Luftfahrt vorgenommen.
Als sie jetzt nach hinten in den Passagierraum blickte, sah Percey die roten
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