Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
den Kühlschrank und goß sich ein Glas Milch ein. Dann ging er in den Gemeinschaftsraum und schlenderte von Bücherregal zu Bücherregal, als suche er etwas zu lesen. Jedesmal, wenn er an einer Videokamera vorbeikam, hob er den Arm und schlug mit dem Löffel gegen die Linse. Dann stellte er sein Milchglas mit dem Löffel auf einen Tisch und ging zum Sicherheitsraum.
»Hey, da stimmt was nicht mit den Monitoren«, murmelte ein Marshai und drehte an einem Knopf.
»Yeah?« fragte der andere mäßig interessiert.
Jodie ging an dem ersten Marshai vorbei. Der sah auf und hob an »Hey Sir, wie geht's denn so?« zu fragen, doch da hatte Jodie schon die Kehle des Mannes ritsch-ratsch in einem säuberlichen V aufgeschlitzt und ließ sein Blut in hohem Bogen versprühen. Die Augen seines Partners weiteten sich vor Schreck, und er griff nach seiner Pistole, doch Jodie riß sie ihm aus der Hand und stach ihm einmal in die Kehle und einmal in die Brust. Er fiel zu Boden und schlug wild um sich. Es war ein geräuschvoller Tod -wie Jodie es erwartet hatte. Doch er konnte dem Mann nicht noch mehr Stiche zufügen; er brauchte die Uniform und mußte ihn deshalb mit einem Minimum an Blutvergießen töten.
Während der Marshai zitternd auf der Erde lag und starb, starrte er Jodie an, der seine eigenen, blutgetränkten Kleider auszog. Die Augen des Marshals flogen zu Jodies Bizeps. Sie hefteten sich auf seine Tätowierung.
Als Jodie sich herunterbeugte und begann, den Marshal zu entkleiden, bemerkte er den Blick des Mannes und sagte: »Es heißt >Totentanz<. Sehen Sie? Der Tod tanzt mit seinem nächsten Opfer. Dahinter ist der Sarg. Gefällt es Ihnen?«
Er fragte mit echter Neugier, erwartete aber keine Antwort. Und erhielt keine.
43. Stunde von 45
Mel Cooper hatte Latexhandschuhe übergezogen und beugte sich über die Leiche des jungen Mannes, den sie im Central Park gefunden hatten.
»Ich könnte es mit den Fußsohlen probieren«, schlug er mutlos vor. Die Abdrücke der Fußsohlen waren ebenso unverwechselbar wie Fingerabdrücke, doch ohne einen direkten Vergleich mit den Füßen eines Verdächtigen hatten sie nur eingeschränkten Wert, denn sie waren nicht in den Datenbanken der AFIS katalogisiert.
»Spar dir die Mühe«, murmelte Rhyme.
Wer, zum Teufel, ist das? fragte sich Rhyme und betrachtete den übel zugerichteten Leichnam. Er ist der Schlüssel zum nächsten Schritt des Tänzers. Oh, das war das schlimmste Gefühl der Welt: eine juckende Stelle, die er nicht erreichen konnte. Ein Beweisstück vor sich zu haben, zu wissen, daß es der Schlüssel zu dem Fall war, aber unfähig zu sein, es zu deuten.
Rhymes Augen wanderten zur Beweisliste an der Wand. Die Leiche war wie die grünen Fasern, die sie im Hangar gefunden hatten, von großer Bedeutung, das spürte Rhyme, doch nicht zu entschlüsseln.
»Sonst noch etwas?« fragte Rhyme den diensttuenden Gerichtsmediziner, der den Leichnam hierherbegleitet hatte. Er war noch jung, aber bereits halb kahl, und auf seiner Glatze standen Schweißtropfen. Der Arzt sagte: »Er ist homosexuell, oder, um genau zu sein, er hat homosexuelle Praktiken ausgeübt, als er jung war. Er hatte wiederholt Analverkehr, allerdings seit ein paar Jahren nicht mehr.«
Rhyme fragte weiter: »Was sagt Ihnen diese Narbe? Eine Operation?«
»Nun, es ist ein sauberer Einschnitt, aber mir ist kein Grund bekannt, an dieser Stelle zu operieren. Vielleicht ein Darmverschluß. Allerdings habe ich noch nie von einer Operation in diesem Bereich des Unterleibs gehört.«
Rhyme bedauerte, daß Sachs nicht dabei war. Er hätte gern mit ihr Ideen entwickelt. Sie wäre bestimmt auf etwas gekommen, das er übersehen hatte.
Wer könnte das nur sein? Rhyme zermarterte sein Gehirn. Identifizierung war eine komplexe Wissenschaft. Einmal hatte er die Identität eines Mannes mit nichts als einem einzigen Zahn festgestellt. Doch diese Prozedur kostete Zeit -normalerweise Wochen oder sogar Monate.
»Macht einen Bluttest und eine DNA-Analyse«, rief Rhyme.
»Schon passiert«, sagte der diensttuende Arzt. »Ich habe die Proben in die Stadt geschickt.«
Falls er HIV-positiv wäre, könnte ihnen das helfen, ihn durch Ärzte oder Kliniken zu identifizieren. Doch ohne weitere Anhaltspunkte waren die Blutwerte nicht besonders hilfreich.
Fingerabdrücke...
Ich würde alles für einen Fingerabdruck geben, dachte Rhyme. Vielleicht...
»Wartet mal!« Rhyme lachte laut auf. »Sein Schwanz!«
»Was?« platzte Sellitto
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