Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
geheftet.
Er starb ein wenig geräuschvoller als sein Partner, doch niemand im Haus schien etwas davon zu bemerken. Der Tänzer zog die Leichen zu Boden und verstaute sie unter einem Tisch.
Bevor er durch die Hintertür nach draußen schlüpfte, stellte er sicher, daß keine Sensoren am Türrahmen angebracht waren. Die beiden Posten vom Haus abgewandt. Einer warf dem Tänzer einen raschen Blick zu, nickte kurz zur Begrüßung und widmete sich dann wieder seiner Überwachung. Am Himmel zeigte sich schon das erste Morgenlicht, doch es war noch so dunkel, daß der Mann ihn nicht erkannte. Beide starben fast lautlos.
Den beiden anderen in dem Wachhäuschen am See näherte sich der Tänzer von hinten. Er kitzelte das Herz des einen Marshals mit einem Stich in den Rücken und schlitzte dann ritsch-ratsch die Kehle des zweiten Wachmannes auf. Zu Boden gesunken, gab der erste Marshai noch einen kläglichen Schrei von sich, bevor er starb. Doch wieder schien niemand etwas zu merken. Der Laut, beschloß der Tänzer, ähnelte stark dem Ruf des Seetauchers, der gerade in dieser schönen rosafarbenen und grauen Morgendämmerung erwachte.
Rhyme und Sellitto waren dabei, alle ihre Kontakte spielen zu lassen, als das Fax mit dem DNA-Profil eintraf. Der Test war in der Schnellversion durchgeführt worden - der Polymerasekettenreaktion -, trotzdem war er schlüssig; bei dem Leichnam vor ihnen auf dem Untersuchungstisch handelte es sich mit einer Wahrscheinlichkeit von sechstausend zu eins um Stephen Kall.
»Jemand hat ihn getötet?« murmelte Sellitto. Sein Hemd war so zerknittert, daß es aussah wie eine Gewebeprobe in fünfhundertfacher Vergrößerung. »Warum?«
Doch warum ist keine Frage für einen Kriminalisten.
Beweismaterial... dachte Rhyme. Beweismaterial war sein einziges Interesse.
Er sah zu den Tafeln an der Wand, überflog noch einmal alle Hinweise in diesem Fall. Die Fasern, die Kugeln, die Glasscherben ...
Analysiere! Denk nach!
Du kennst die Prozedur. Du hast das schon eine Million mal getan.
Du stellst die Tatsachen fest. Du quantifizierst und kategorisierst sie. Du formulierst Vermutungen. Und ziehst deine Schlußfolgerungen. Dann überprüfst du...
Vermutungen, dachte Rhyme.
Eine herausstechende Vermutung war von Anfang an in diesem Fall präsent gewesen. Sie hatten ihre gesamte Untersuchung auf die Annahme gestützt, daß Stephen Kall der Totentänzer war. Aber was, wenn er es nicht wäre? Sondern nur ein kleiner Bauer, den der Tänzer als Waffe benutzt hatte?
Irreführung...
Wenn es so wäre, müßte es Beweismaterial geben, das nicht zusammenpaßte. Etwas, das auf den echten Tänzer hindeutete.
Er brütete über den Tafeln.
Doch da war nichts Ungeklärtes, mit Ausnahme der grünen Faser. Und die sagte ihm nichts.
»Wir haben keine Kleider von Kall, oder?«
»Nein, er war splitterfasernackt, als wir ihn fanden«, antwortete der Gerichtsmediziner.
»Haben wir auch nichts, womit er in Kontakt kam?«
Sellitto zuckte die Achseln. »Na ja, wir hatten Jodie.«
Rhyme kam eine Idee. »Er hat sich hier umgezogen, stimmt's?«
»Stimmt«, bestätigte Sellitto.
»Bring Jodies Kleider her. Ich will sie mir ansehen.«
»Igitt«, Dellray schüttelte sich. »Die sind extrem unappetitlich.«
Cooper machte Jodies verdreckte Kleider ausfindig und brachte sie herein. Er bürstete sie über druckfrischen Zeitungsseiten aus. Dann legte er Proben des Materials auf Objektträger und schob sie unter das Elektronenmikroskop.
»Was haben wir?« Rhyme schaute auf den Bildschirm, wo er dasselbe sah wie Cooper unter seinem Mikroskop.
»Was ist dieses weiße Zeug?« fragte Cooper. »Diese Körner. Davon gibt es eine Menge. Sie waren im Saum seiner Hose.«
Rhyme spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Teils rührte sie von seinem Blutdruck, der infolge der Erschöpfung verrückt spielte, teils von den Phantomschmerzen, die ihn noch immer ab und zu plagten. Doch hauptsächlich war es das Jagdfieber.
»O mein Gott«, flüsterte er erregt.
»Was ist los, Lincoln?«
»Es ist Oolith«, verkündete er.
»Was, zum Teufel, ist das?« fragte Sellitto.
»Rogenstein. Ein Sand, der vom Wind getragen wird. Man findet ihn auf den Bahamas.«
»Auf den Bahamas?« Cooper runzelte die Stirn. »Wir haben doch kürzlich erst etwas über die Bahamas gehört.« Er sah sich im Labor um. »Was war das nur? Ich kann mich nicht erinnern.«
Rhyme aber konnte. Seine Augen waren auf die Tafel mit dem FBI-Untersuchungsbericht über
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