Leuchtende Sonne weites Land - Roman
eigentlich viel zu schade waren. Die zwei, die sie seit ihrer Ankunft auf der Farm trug, konnte sie nicht mehr sehen.
Die Fotoalben, die sie eingepackt hatte, legte sie beiseite. Sie hatte sich vorgenommen, alles, was sie an Henry erinnerte, in den nächsten Tagen zu verbrennen. Nur das gerahmte Foto von ihrem Vater stellte sie auf dem Schreibtisch auf. Einerseits tröstete sie der Anblick seines lächelnden Gesichts, andererseits bekam sie schreckliches Heimweh.
In dem Koffer befand sich auch eine Schachtel mit Dingen, die ihrer Mutter gehört hatten. Ihr Vater hatte sie ihr kurz vor ihrer Abreise mit den Worten, sie enthalte einige persönliche Erinnerungsstücke und Aufzeichnungen ihrer Mutter, in die Hand gedrückt. Ihre Mutter hatte die Schachtel in einem Schrank aufbewahrt, der mit einigen anderen Möbelstücken nach ihrem letzten Umzug eingelagert worden war. Deshalb war sie bei dem Feuer, das ihr Zuhause zerstört hatte, nicht verbrannt. Jacqueline hatte vor ihrer Abreise keinen Blick hineingeworfen, weil sie fürchtete, die Erinnerungen könnten zu schmerzhaft sein. Aber jetzt, in ihrer grenzenlosen Einsamkeit, verspürte sie eine brennende Sehnsucht nach ihren Angehörigen und wünschte sich inbrünstig, ihnen nahe zu sein.
Sie öffnete die Schachtel. Sie wusste noch, wie sie sich als kleines Mädchen verkleidet und dafür Schmuck ihrer Mutter aus dieser Schatulle genommen hatte. Neben ihrer Perlenkette lagen auch einige Ohrringe darin. Das bestickte Seidentaschentuch war ein Geschenk von Jacqueline zum Muttertag gewesen. In zwei Umschlägen fand sie Locken, eine haselnussbraune von ihr selbst, eine rötlichblonde von Mitchell. Jacqueline kamen die Tränen, als sie die Haare ihres Bruders in der Hand hielt. Behutsam schob sie die Locke in den Umschlag zurück. Sie fand Postkarten von den engsten Freundinnen ihrer Mutter in England, ein Adressbüchlein, einige Briefe sowie ein Tagebuch. Ihr Vater hatte das Tagebuch nach dem Unfall im Auto entdeckt und aufbewahrt. Jacqueline drehte es verwundert in den Händen, sie hatte gar nicht gewusst, dass ihre Mutter ein Tagebuch geführt hatte. Freudig schlug sie es auf. Was für ein Geschenk, an diesem Tag, der zu den traurigsten ihres Lebens gehörte, die Handschrift ihrer Mutter sehen und ihre Gedanken lesen zu dürfen.
Margarets erster Eintrag stammte vom Tag ihrer Abreise in Southampton. Sie berichtete, wie aufgeregt sie war, als die junge Familie in die Vereinigten Staaten aufbrach, und wie stolz, dass Lionel eine Stelle in der britischen Botschaft antreten würde. Jacqueline konnte den jugendlichen Übermut, die Zuversicht aus den Worten ihrer Mutter heraushören. Sie musste damals viel jünger gewesen sein, als sie selbst jetzt war.
Der nächste Tagebucheintrag war ein paar Tage später datiert. Sie sei fürchterlich seekrank, schrieb sie, und Jacqueline auch. Während sie beide mit kalten Umschlägen auf der Stirn und einem Eimer neben dem Bett in ihrer Kabine litten, amüsierten sich Lionel und Mitchell, denen es offenbar ausgezeichnet ging, an Deck. Jacqueline musste an ihre Überfahrt nach Australien denken, doch daran wollte sie gewiss nicht erinnert werden. Sie klappte das Tagebuch zu. Im gleichen Augenblick schaltete sich das Funkgerät ein. Es war Vera. Mike sei noch draußen auf den Feldern, sagte sie, sie warte mit dem Abendessen auf ihn.
»Was machst du so? Over.« Veras Stimme klang trübsinnig.
»Nicht viel. Over«, antwortete Jacqueline genauso deprimiert.
»Ist was passiert? Du klingst so merkwürdig. Hast du das Essen anbrennen lassen? Over.«
»Ich wünschte, es wäre nur das«, erwiderte Jacqueline bitter. »Mein Schrankkoffer ist heute angekommen. Ich habe gerade meine Sachen durchgesehen. Over.«
»Dein Schrankkoffer? Wie kann das denn sein? Over.«
»Henry hat einen Privatdetektiv beauftragt, meinen Aufenthaltsort herauszufinden. Ich habe auch einen Brief bekommen, in dem er mir eine schäbige Abfindung anbietet, wenn ich in die Scheidung einwillige. Anscheinend kann er es kaum erwarten, mich loszuwerden, und das möglichst billig. Over.«
»Dieser egoistische Dreckskerl!«, fauchte Vera wütend. »Ich an deiner Stelle würde mich weigern, irgendetwas zu unterschreiben. Ich würde diesem verlogenen Bastard eine Lektion erteilen, die sich gewaschen hat! Zerr ihn vor Gericht und knöpf ihm jeden Cent ab! Over.«
Jacqueline musste unwillkürlich lächeln über Veras hasserfüllten Ausbruch. Genau wie Ben meinte sie es nur gut, und
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