Leuchtende Sonne weites Land - Roman
versuchten, und verfolgt. Ich weiß noch, wie Mitchell, mein kleiner Bruder, durch die Heckscheibe guckte und zu meinem Vater sagte, der Wagen hinter uns komme rasch näher. Dad geriet vermutlich in Panik und gab Gas. Er schaute immer wieder in den Rückspiegel, die Scheinwerfer des Fahrzeugs hinter uns blendeten ihn. Meine Mutter hatte furchtbare Angst. Er solle nicht so schnell fahren, bat sie meinen Vater inständig. Aber er wollte nicht, dass der andere Wagen uns einholte. Mitchell und ich klammerten uns auf der Rückbank aneinander.«
Vera schwieg betroffen, während sie sich auszumalen versuchte, wie schrecklich dieses Erlebnis für ein Kind und auch für die Eltern sein musste, die Angst um ihre Kinder hatten.
»Bevor der Pöbel unser Haus anzündete, waren zwei Polizeibeamte zu uns gekommen. Sie rieten meinen Eltern, sich in Sicherheit zu bringen. Der eine sagte, die Menge draußen mache meine Mutter für den Tod eines kleinen Mädchens verantwortlich, dasvor der Ballettschule, an der sie unterrichtete, gefunden worden war. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte oder wie meine Mutter das Mädchen getötet haben sollte. Sie war ganz aufgelöst und gab sich die Schuld an dessen Tod. Ich konnte das überhaupt nicht verstehen, aber niemand erklärte es mir. Mein Vater weigerte sich sogar Jahre später noch, darüber zu reden. Ich habe gerade im Tagebuch meiner Mutter gelesen, dass farbige Mütter zu ihr kamen und sie baten, ihre Mädchen zu unterrichten, dass sie sie aber nicht als Schülerinnen annehmen durfte, weil die Besitzerinnen der Schule keine Farbigen dort duldeten.«
»Ich verstehe. Ich kann mich gut an jene Zeiten erinnern.« Vera, die älter war als Jacqueline, wusste genau, wovon diese sprach.
»Es gab große Spannungen zwischen Schwarzen und Weißen. Dass den Schwarzen der Besuch der Ballettschule verwehrt wurde, sorgte für zusätzlichen sozialen Zündstoff. Die Mütter der abgewiesenen Kinder gaben allein meiner Mutter die Schuld daran, nicht den Besitzerinnen der Ballettschule. Mein Vater habe sie gebeten, die Stelle aufzugeben, schreibt sie in ihrem Tagebuch, aber das wollte sie nicht, weil sie weder ihre Schülerinnen im Stich lassen noch mich enttäuschen konnte. Ich habe begeistert Ballett getanzt. Verstehst du, Vera? Was damals passiert ist, ist zum Teil meine Schuld! Meinetwegen ist meine Mutter an dieser Schule geblieben.«
»Nein, Jackie, so etwas darfst du nicht denken. Du kannst absolut nichts dafür, du warst doch noch ein Kind. Deine Mutter wollte dir eine Freude machen, aber woher hättest du um die Zusammenhänge wissen sollen? Du warst ein kleines Mädchen, das gern getanzt hat.«
Jacquelines Unterlippe zitterte. »Ich würde gern weiterlesen, Vera, aber … aber ich habe Angst vor der Wahrheit«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Was, wenn meine Mutter tatsächlich dieses kleine Mädchen getötet hat, und sei es unbeabsichtigt? Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen.«
»Ich kann dich verstehen, aber du kannst erst mit der Vergangenheit abschließen, wenn du die ganze Geschichte kennst«, sagte Vera eindringlich.
Jacqueline nickte. Vera hatte Recht.
Am folgenden Nachmittag saß Jacqueline auf ihrem Bett und las Vera aus dem Tagebuch ihrer Mutter vor. Sie hatte Vera gebeten, ihr Gesellschaft zu leisten, weil sie Angst davor hatte, die Reise in die Vergangenheit ganz allein zu unternehmen.
Im Unterricht blickte ich zufällig auf und entdeckte ein kleines schwarzes Mädchen, das uns vom Notausgang, der zur Feuerleiter hinausführt, aus zuschaute. Ich erschrak. Die Kleine musste die verschneite, rutschige Treppe hinaufgeklettert sein. Ich kannte das Mädchen. Es war die Kleine, die mit ihrer Mutter gekommen war und geweint hatte, als ich sagte, sie dürfe nicht am Unterricht teilnehmen. Ich ging hinauf und sagte ihr, sie dürfe doch nicht die Feuerleiter hinaufsteigen, das sei viel zu gefährlich, und sie dürfe auch nicht allein im Dunkeln unterwegs sein. Ich schickte sie nach Hause. Sie ging widerwillig.
Zur nächsten Stunde war sie wieder da. Wieder schickte ich sie weg. Und zur nächsten Stunde kam sie erneut. Dieses Mal sagte ich nichts mehr. Bei ihrer Entschlossenheit und ihrer Hingabe wäre sie sicherlich eine ausgezeichnete Schülerin gewesen. Allein das Zuschauen schien ihr so viel Freude zu bereiten. Wie gern hätte ich sie aufgefordert, herunterzukommen und sich uns anzuschließen. Aber ich traute mich nicht. Hätte Vivienne davon erfahren, hätte sie
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