Leuchtende Sonne weites Land - Roman
ausgerutscht und in die Tiefe gestürzt. Dabei hatte es sich den Kopf angeschlagen – daher die Blutspuren. Genau das, was ich die ganze Zeit befürchtet hatte, war passiert.
Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass sie schon tot war, als sie unten aufschlug. Sie war tot, bevor ich sie mit dem Auto erfasste. Sie war in eine Schneewehe gefallen, wo ich sie nicht sehen konnte.
Obwohl ich sie nicht getötet habe, fühle ich mich schuldig, weil ich wusste, dass sie dort oben war. Ich könne nichts dafür, ich solle mir keine Vorwürfe machen, sagt Lionel immer wieder, aber es hilft nichts. Ich mache mir bittere Vorwürfe, ich hätte mehr tun müssen, ich hätte verhindern müssen, dass sie zur Schule kommt. Das werde ich mir niemals verzeihen. Sooft ich meine Tochter ansehe, werde ich an Valmaes Mutter denken und an ihren Schmerz über den Verlust ihres Kindes. Wie soll ich jemals mit dieser Schuld fertig werden, mich jemals wieder im Spiegel betrachten können?
Die Tränen liefen Jacqueline übers Gesicht, als sie das Tagebuch zuklappte. Auch Vera hatte Tränen in den Augen.
»Deine Mutter trifft keine Schuld, Jackie«, sagte sie sanft. »Sie hat alles getan, was in ihrer Macht stand. Es war ein tragischer Unfall.«
Jacqueline nickte. »Aber Valmaes Familie gab ihr die Schuld amTod des Mädchens. Deshalb haben sie unser Haus in Brand gesteckt. Ein tragischer Unglücksfall löste eine Katastrophe aus. Weil Valmae ausgerutscht und zu Tode gestürzt ist, habe ich meine Mutter und meinen Bruder verloren.«
Brent Masterson hatte ein zweites Treffen mit Henry vereinbart. Als er die Bar des Criterion Hotel betrat und seine Blicke suchend über die Gäste schweifen ließ, musste er zweimal hinschauen, ehe er Henry in dem ungepflegten, aufgedunsenen Mann wiedererkannte, den er erst wenige Wochen zuvor kennen gelernt hatte. Der Detektiv fühlte sich in seinem Verdacht bestätigt: Offensichtlich hatte Henry Walters eine Geliebte, die im Begriff war, ihn auszunehmen und zugrunde zu richten.
»Hallo, Henry.« Als er vor ihm stand, fiel Brent auf, dass ein Knopf an seinem Hemd fehlte und er zwei verschiedene Socken anhatte.
Henry schaute aus trüben Augen auf. Er musste schon eine ganze Weile in der Bar gesessen haben.
»Habe ich Sie warten lassen?«, fragte Brent, obwohl er stets pünktlich war. Aus reiner Höflichkeit warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Nein, nein, ich war viel zu früh da«, antwortete Henry müde. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, saß er bereits beim dritten Bier.
Brent betrachtete ihn prüfend. Hatte er bei ihrem ersten Treffen noch gedacht, Henry sehe in dieser Bar fehl am Platz aus, so fiel er jetzt nicht mehr auf unter den Stammgästen aus der Unterschicht. Seine Haare waren schmuddelig und zu lang, er war unrasiert, und sein Hemd trug er seit mindestens zwei Tagen. Es ging abwärts mit ihm, und zwar rapide.
Als Brent ein Bier bestellte, starrte Henry nur dumpf vor sich hin. Er erkundigte sich nicht einmal, wie weit der Detektiv in der Scheidungsangelegenheit vorangekommen war.
»Die Scheidungsunterlagen sind zurückgekommen«, sagte Brent. »Unterschrieben.«
Einen Augenblick lang machte Henry einen niedergeschmetterten Eindruck. Obwohl er nicht erwartet hatte, dass Jacqueline um ihre Ehe kämpfen würde, war er in seiner Eitelkeit gekränkt – sie willigte scheinbar ohne weiteres in die Scheidung ein. Er fragte sich, ob sie bereits einen anderen gefunden hatte. Nicht zum ersten Mal sehnte er sich nach seinem behaglichen alten Leben zurück.
»Ihre Frau hat Ihre Bedingungen akzeptiert. Es wird also nicht nötig sein, einen Anwalt einzuschalten. Damit dürften Sie eine Menge Geld sparen.«
Henry zuckte lediglich mit den Schultern.
»Stimmt etwas nicht, Henry?«, fragte Brent nach einer kurzen Pause.
Henry zögerte, aber er musste mit jemandem über seine Sorgen reden, die ihn schon so lange drückten. »Wie ist es möglich, dass ein Leben auf einmal so kompliziert werden kann? Können Sie mir das verraten, Brent?«
Der Privatdetektiv kannte diese Rede, er hatte sie schon oft in seinem Leben in den unterschiedlichsten Variationen gehört. »Nun, meistens ist das die Folge davon, dass wir die falsche Entscheidung aus dem richtigen Grund treffen.« Er nippte an seinem Bier.
»Genauso ist es. Noch vor ein paar Monaten wusste ich genau, wohin ich gehen wollte, was ich tat und mit wem ich es tat.«
»Und jetzt?«
»Jetzt weiß ich überhaupt nichts mehr.«
Brent schwieg
Weitere Kostenlose Bücher