Leuchtende Sonne weites Land - Roman
ganz elend, aber jetzt war keine Zeit für Erklärungen. »Wir müssen los, es wird bald dunkel.« Er wandte sich ab.
»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte Jacqueline verzweifelt.
»Nein«, erwiderte Ben kurz angebunden. »Du bleibst besser hier. Ich hab keine Lust, auch noch nach dir suchen zu müssen.« Er stapfte davon.
»Wolltest du etwa ernsthaft bei diesem Wetter hinaus?«, wunderte sich Vera.
»Yuri ist irgendwo da draußen, ganz allein. Ben glaubt, ich hätte etwas mit seinem Verschwinden zu tun, sonst hätte er mich helfen lassen.«
»Ach was, Unsinn!«
»Du hast doch gesehen, wie er mich angeguckt hat«, erwiderte Jacqueline aufgebracht.
»Wir werden ihm später alles erklären«, beruhigte Vera sie.
Jacqueline schaute aus dem Fenster. Es regnete in Strömen. Das Tageslicht nahm rapide ab. »Der arme Kleine muss völlig verängstigt sein.«
Vera machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Aborigines leben doch im Freien, oder nicht? Ein bisschen Regen wird dem Jungen bestimmt nicht schaden.«
»Der Regen vielleicht nicht, aber es wird bald dunkel. Was, wenn er sich verlaufen hat? Oder von einem dieser Wildhunde angegriffen wird, einem Dingo? Oder in einen Fluss fällt? Einem Kind, das ganz allein da draußen unterwegs ist, kann doch alles Mögliche zustoßen. Kein Wunder, dass Dot völlig aufgelöst ist.«
Vera musste ihr Recht geben. »Mach dir keine Sorgen, die Männer werden ihn schon finden, du wirst sehen.«
Jacqueline schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass mich keine Schuld trifft. Trotzdem. Ich war vermutlich die Letzte, die ihn gesehen hat, und ich habe ihn erschreckt. Deshalb ist er weggelaufen. Wenn ihm etwas zustößt, werde ich mir die gleichen Vorwürfe machen wie seinerzeit meine Mutter. Ich brauche dir ja nicht zu erzählen, wie die Geschichte ausgegangen ist«, fügte sie bedrückt hinzu.
Ben, Nick und die Jungen kehrten einige Stunden später unverrichteter Dinge zurück. Sie hatten Yuri nicht gefunden. Inzwischen war es dunkel geworden, und es regnete immer noch.
»Ich hätte ihnen bei der Suche helfen sollen«, sagte Jacqueline, nachdem die völlig erschöpften Männer ins Bett gegangen waren. Das Warten und die Sorge um das Kind hatten sie zermürbt.
»Du hättest auch nichts ausrichten können«, entgegnete Vera. Sie stand auf der Veranda und blickte in die regennasse Dunkelheit hinaus. »Zumal du das Gelände nicht so gut kennst wie die Männer. Wenn dir nun auch etwas zugestoßen wäre? In ein paar Stunden wird es hell. Dann werden sie ihn schon finden, du wirst sehen.«
Bei Tagesanbruch setzten die Männer ihre Suche fort. Sie hatten nur Tee getrunken, aber nichts gegessen, und so hatte Vera ihnen einen Stapel belegte Brote zum Mitnehmen eingepackt. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen.
Jacqueline hörte, wie Ben und Nick besprachen, welches Gebiet sie als Nächstes absuchen wollten. Tags zuvor hatten sie sich auf die Gegend konzentriert, in der sich die Lager der Aborigines befanden, weil sie annahmen, dass Yuri in diese Richtung gegangen sei.
»Ich hab heute Nacht kein Auge zugemacht«, meinte Vera, als die Männer aufgestiegen und weggeritten waren. »Du wahrscheinlich auch nicht.«
Jacqueline schüttelte den Kopf. »Nein, ich musste dauernd an den kleinen Jungen denken. Sei so gut und gib den Hunden etwas zu fressen, Vera. Ich füttere unterdessen die Hühner.«
»Sicher, mach ich«, erwiderte Vera.
Sie war kaum durch die Hintertür hinausgegangen, als Jacqueline durch die Vordertür schlüpfte und zu den Ställen lief, wo sie in aller Eile Dixie sattelte. Sie setzte die Stute in leichten Galopp und schlug die Richtung zur Furt hinunter ein, die aufs Neue vom Wasser überspült wurde. Statt die Furt zu durchqueren, ritt sie am Ufer entlang auf die Stelle zu, wo sie und Geoffrey den Widder gerettet hatten. Ein seltsames Gefühl trieb sie in diese Richtung. Obwohl der Fluss nicht so stark angestiegen und die Strömung weniger reißend war als bei den heftigen Niederschlägen zuvor, war das ein gefährlicher Ort für einen kleinen Jungen.
Jacqueline suchte die feuchte Erde nach Fußspuren ab. Sie entdeckte viele Abdrücke. Die Spuren von Vögeln und Emus waren am leichtesten zu erkennen, die Fährten von Kängurus, Opossums und Wombats hingegen waren für ein ungeübtes Auge schwer zu unterscheiden. Aber den Abdruck eines nackten Kinderfußes würde sie mit Sicherheit erkennen. Jacqueline achtete auch auf die Sträucher – vielleicht war Yuri an einem
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