Leuchtende Sonne weites Land - Roman
hängen geblieben, und sie fand einen Stofffetzen von seinem T-Shirt oder seinen Shorts.
Mit den Blicken suchte sie die Uferböschung ab. Sie hoffte inständig, dass Yuri nicht in den Fluss gefallen war. Da die Flüsse jahrelang kein Wasser geführt hatten, konnte er bestimmt nicht schwimmen.
Als Jacqueline die Stelle passierte, wo der Schafbock fast ertrunken wäre, stieg das Gelände merklich an. Bäume säumten das Ufer, hauptsächlich stattliche alte Rieseneukalyptusbäume, von deren knorrigen, gewundenen Ästen das Regenwasser tropfte. Aufgrund des Gefälles war der Boden zwar nicht so schlammig wie weiter unten, aber dennoch rutschig, und Jacqueline war froh, dass Dixie sicher auftrat. Bei dem Gedanken, der kleine Junge könnte im Dunkeln am Fluss entlanggegangen sein, schauderte sie.
Ein Stück weiter oben entdeckte sie zu ihrer Linken in der feuchten, weichen Erde, wo nach dem letzten Regen da und dort ein bisschen Gras gewachsen war, Fußspuren. Jacqueline zog die Zügel an und beugte sich hinunter, um besser sehen zu können. Sie war sich ziemlich sicher, dass es sich um einen Fußabdruck handelte, der nur von einem Kind stammen konnte. Sorgfältig schaute sie sich um, konnte aber keine Spuren von einem Erwachsenen erkennen. Ein Kind, das allein unterwegs war – das konnte nur Yuri sein. Jacqueline überlegte, ob sie umkehren und Ben und Nick holen sollte, aber sie fürchtete, kostbare Zeit zu verlieren. Sie beschloss weiterzureiten.
Nach ungefähr einer Meile erreichte sie offenes Gelände. Da sie nirgendwo mehr eine Koppel sehen konnte, nahm sie an, dass sie sich nicht mehr auf Bens Land befand. Der Fluss machte einen Knick nach rechts. Jacqueline ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. Vereinzelte Mulga-Sträucher wuchsen auf dem lehmigen Boden; in der Ferne standen Bäume, und eine gezackte, im Morgenlicht purpur schimmernde Hügelkette erhob sich dahinter. Jacqueline nagte unschlüssig an ihrer Unterlippe. Wasserlachen hatten sich im lehmigen Boden gebildet, es war schwer, irgendwelche Spuren zu erkennen. Zu guter Letzt folgte sie ihrem Instinkt und ritt geradeaus weiter.
Plötzlich tat sich die Erde vor ihr auf. Ein tiefer Riss, hervorgerufen vielleicht durch ein Erdbeben viele hundert Jahre zuvor, zog sich durch die Landschaft.
Sie stieg ab, trat näher und schaute in den Abgrund zwischen dem verwitterten Gestein, wo vielleicht einmal Wasser geflossen war. Jetzt standen dort unten nur einige wenige Pfützen, dazwischen ein paar Mulga-Sträucher. Jacqueline fragte sich, wie weit die Spalte wohl in die Berge hineinreichen mochte. Sie dachte an Yuri und fröstelte. Ob er in der Dunkelheit irgendwo da hinuntergefallen war?
Ben hatte gesagt, sie bräuchten einen Ureinwohner als Fährtensucher, und jetzt musste sie sich eingestehen, dass er Recht hatte. Sie blickte sich hilflos um. So ohnmächtig hatte sie sich nicht einmal gefühlt, als Henry ihr erklärte, er wolle sich scheiden lassen. Obwohl sie nichts dafür konnte, dass Yuri weggelaufen war, machte Jacqueline sich Vorwürfe. Jetzt wusste sie, wie ihre Mutter sich gefühlt hatte, als man sie für Valmaes Tod verantwortlich machte.
Eine Weile stand sie ratlos da und dachte nach. Da erklang auf einmal ein leises Wimmern. Sie lauschte angespannt. Da war es wieder. Jacqueline bekam Herzklopfen. Das war kein Tier, sie war sicher, dass das Yuri war. Abermals beugte sie sich über den Rand des Abgrunds und versuchte, in dem Zwielicht dort unten etwas zu erkennen.
Wieder vernahm sie ein leises Weinen. Sie ließ Dixie zurück und ging vorsichtig zu Fuß an der brüchigen Kante der Erdspalte entlang, die sich in einer Zickzacklinie einige Meilen weit erstreckte. Die Schlucht war ungefähr drei Meter tief. Ein kleines Kind würde nicht wieder heraufklettern können, aber vielleicht könnte sie ja hinunterklettern.
Und dann auf einmal sah sie den Jungen. Er drückte sich im Sitzen an die Felswand und schluchzte. Jacqueline brach es schier das Herz, so klein und verloren sah er aus. Er war völlig durchnässt, schmutzig und zitterte vor Kälte. Ob er verletzt war, konnte sie nicht erkennen. Sie wollte nicht rufen, weil sie ihn nicht wieder erschrecken wollte. Stattdessen suchte sie eine weniger steile Stelle zum Hinunterklettern.
Jacqueline hatte ihren Abstieg kaum begonnen, als sie ins Rutschen kam, weil das brüchige Gestein sich unter ihren Händen und Füßen lockerte. Sie verlor den Halt, stürzte ab und landete unsanft auf dem Rücken.
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