Leuchtende Sonne weites Land - Roman
einiges erklären müssen, bevor sie dich wieder gehen lassen.«
»Sie können mich doch nicht gegen meinen Willen hier festhalten«, brauste Jacqueline auf. »Das ist gegen das Gesetz! Dafür können sie festgenommen werden.«
»Das Gesetz der Weißen hat hier keine Gültigkeit«, erwiderte Djula gelassen. »Hier bist du dem Gesetz des Stammes unterworfen, und man wird dich entsprechend bestrafen, wenn du die Stammesältesten nicht von deiner Unschuld überzeugen kannst. Aber sie sind gerecht, falls dir das ein Trost ist.«
»Nein, das ist mir überhaupt kein Trost!« Jacqueline hielt das alles für einen bösen Traum. Und was bedeutete »das Gesetz des Stammes«? »Was wirft man mir denn vor?«
Bevor Djula antworten konnte, rief einer der alten Männer ihm etwas zu.
»Wir müssen beginnen«, sagte er, ohne auf Jacquelines Frage einzugehen.
Inzwischen war es Nacht geworden, und die Augen der altenMänner und ihre Haut glitzerten im Schein des Lagerfeuers, wodurch sie noch bedrohlicher wirkten. Unvermittelt stimmten sie einen monotonen Singsang an und schlugen Stöcke rhythmisch gegeneinander. Jacqueline warf Djula einen verstohlenen Blick zu. Er hatte den Kopf gesenkt, musste aber gespürt haben, dass sie ihn ansah, denn er flüsterte:
»Die Ältesten bitten die Geister ihrer Ahnen um Beistand. Sie sollen dich dazu bringen, die Wahrheit zu sagen.«
»Ich habe kein Problem damit, die Wahrheit zu sagen«, zischte Jackie wütend, was ihr einen strafenden Blick der alten Männer eintrug.
Als einer von ihnen schließlich das Wort ergriff, sah er Djula an, zeigte aber auf Jacqueline.
Djula wandte sich ihr zu. »Die Ältesten wollen wissen, warum deine Mutter ein schwarzes Kind getötet hat. Sie wollen auch wissen, ob sie dafür mit dem Tode bestraft wurde.«
Jacqueline riss bestürzt Mund und Augen auf. »Sie hat das Kind nicht getötet. Man fand heraus, dass sie unschuldig war.«
Djula übersetzte, was sie gesagt hatte. Die Ältesten wurden zornig, Wirapundu griff nach seinem Speer, und Jacqueline duckte sich unwillkürlich.
Djula sah sie beunruhigt an. »Sie glauben dir nicht. Man hat gehört, wie du zu einer Weißen sagtest, deine Mutter habe das Kind getötet. Wenn du je wieder nach Hause zurückwillst, musst du die Wahrheit sagen.«
»Das ist die Wahrheit«, beteuerte Jacqueline. »Ich habe aus dem Tagebuch meiner Mutter vorgelesen. Sie dachte, sie habe das Kind getötet, aber dann stellte sich heraus, dass das nicht der Fall gewesen war.« Da das verwirrend und nicht sehr überzeugend klang, fügte sie hinzu, sie werde ganz am Anfang beginnen und alles erklären.
»Das solltest du tun«, pflichtete Djula ihr bei. »Nur so kannst du dich retten.«
Jacqueline konnte zwar nicht glauben, dass sie sie einfach umbringen würden, aber andererseits wusste sie nichts über die Aborigines und ihre Sitten und Bräuche. Ben und Nick jedenfalls nahmen ihre Warnungen ernst, und deshalb wollte sie das auch tun. Die Ältesten nickten zustimmend, als Djula ihnen übersetzte, was Jacqueline gesagt hatte.
Sie begann ihre Geschichte mit der Ankunft ihrer Familie in Atlanta. In ihren Gedanken kehrte sie oft an diesen Punkt in der Vergangenheit zurück, weil nicht lange danach ihre Familie zerstört wurde und nichts mehr so wie früher war. Sie legte immer wieder kurze Pausen ein, damit Djula übersetzen konnte. Zuerst sprach sie leise und unbeholfen, ihre Worte klangen hohl und leer. Den Blick in die Flammen gerichtet, trat sie die Reise in ihre Vergangenheit an.
Nach einer Weile hatte sie die Anwesenheit der Aborigines fast vergessen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich die Frauen, darunter auch Dot, genähert und hinter ihr versammelt hatten. Das Geschichtenerzählen war ein wesentlicher Bestandteil der Kultur der Ureinwohner. Auf diese Weise gaben sie ihr Wissen und ihre Bräuche von einer Generation zur nächsten weiter.
Rings um das Lagerfeuer herrschte eine tiefe, undurchdringliche Finsternis. Die Dunkelheit brach in Australien sehr schnell herein. Ben hatte den Sonnenuntergang auf diesem Kontinent einmal mit einem Stein verglichen, der vom Himmel fiel. Im Schein der Flammen tanzten Insekten. Nur das Knistern und Prasseln des Feuers und das gelegentliche Zirpen einer Grille im Busch waren zu hören.
Jacqueline hatte noch nie in ihrem Leben an einem Lagerfeuer gesessen. Das einzige freie Stück Natur, das sie kannte, war der Central Park in New York, und der lag inmitten der Großstadt. Es war grün dort, und es
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