Leuchtende Sonne weites Land - Roman
erst einmal abgereist waren und sie bis dahin keine Stelle gefunden hatte. Sie dachte an Henry. Blinde Wut packte sie. Es war ganz allein seine Schuld, dass sie jetzt in dieser Situation war! Eigentlich hätten sie am folgenden Tag ihr gemeinsames neues Leben in Melbourne beginnen sollen, eigentlich hätte sie sich keine Sorgen machen sollen, wo sie schlafen und wovon sie ihre nächste Mahlzeit bezahlen sollte.
»Verdammt sollst du sein, Henry«, knurrte sie. Zorn und Verzweiflung schnürten ihr die Kehle zu.
Dann atmete sie tief durch, straffte sich und ging zum Black Diamond Café auf der anderen Straßenseite. Im Fenster hing ein Schild:
kellnerin gesucht , berufserfahrung von vorteil .
Jacqueline verspürte ein nervöses Kribbeln im Bauch. Fast wäre sie weitergegangen, aber sie merkte, dass sie Hunger hatte, und dasgab den Ausschlag. Sie sprach sich Mut zu, holte tief Luft und betrat das Lokal.
Als sie zum Tresen ging, ließ sie ihren Blick über die Gäste schweifen. An den Tischen saßen Familien und Paare, aber auch vierschrötige, kräftige Männer, Dockarbeiter, wie sie vermutete. Es war nicht die Art von Gastwirtschaft, in der sie selbst gegessen oder die sie in ihrem früheren Leben überhaupt betreten hätte, doch die Dinge hatten sich geändert. Und sie selbst musste sich ändern, wollte sie überleben.
Eine sichtlich überlastete Frau stand hinter der Theke. Sie hatte die Haare zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt und trug eine verschmierte, dunkel eingefasste Brille. Ihre ergrauenden Haare deuteten darauf hin, dass sie Ende fünfzig oder Anfang sechzig war.
»Ein Tisch für eine Person?«, fragte sie mit matter Stimme, als Jacqueline vor ihr stand. Sie sprach mit einem leichten Akzent.
»Nein, ich komme wegen der Stelle als Kellnerin.«
Die Frau sah sie erstaunt an. »Haben Sie schon einmal als Kellnerin gearbeitet?«
Sie musterte Jacquelines weißes Kleid, ihre manikürten Nägel und die wertvollen Ringe. Und ihr fiel auf, dass sie sich in dieser Umgebung nicht besonders wohl zu fühlen schien.
»Ja, zu Hause in den Vereinigten Staaten«, log Jacqueline, einer plötzlichen Eingebung folgend. Weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, fügte sie leise hinzu: »Das ist aber schon eine Weile her …«
»Ich könnte dringend Hilfe gebrauchen, weil ich meine Kellnerin gerade gefeuert habe. Also – wann können Sie anfangen?«
Die Frau wusste vor Arbeit ganz offensichtlich nicht, wo ihr der Kopf stand. Sie eilte hinter dem Tresen hervor und begann, einen der Tische abzuräumen.
»Ich … äh … wann Sie wollen«, stotterte Jacqueline, die sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, sich aber andererseits fragte, warum die Wirtin eine Kellnerin gefeuert hatte, wenn sie sodringend eine Arbeitskraft benötigte. Außerdem hätte sie gern gewusst, wie viel sie verdienen konnte.
»Schön, dann schnappen Sie sich eine Schürze, hinter der Theke hängt eine, und nehmen die Bestellung von Tisch sechs auf«, sagte die Frau. »Ich heiße übrigens Irma. Mein Mann Donald ist der Koch, Kochen ist praktisch das Einzige, wofür er taugt. Und der Faulpelz von einem Geschirrspüler ist mein Neffe, Freddie.«
»Jacqueline Walters.« Sie streckte Irma ihre Hand hin, ließ sie aber wieder sinken, als sie sah, dass Irma bereits sechs schmutzige Teller und Besteck auf einer Hand balancierte und mit der anderen nach mehreren Gläsern griff.
Sie knallte das Geschirr in die Küchendurchreiche, machte Freddie mit einem lauten Befehl darauf aufmerksam und drückte Jacqueline, die sich nicht vom Fleck gerührt hatte, eine Schürze, einen Notizblock und einen Stift in die Hand.
»Binden Sie sich die besser um, sonst bleibt Ihr weißes Kleid nicht lange so weiß.« Es war eine Feststellung, kein gut gemeinter Ratschlag, aber Jacqueline band sich die Schürze dennoch um.
»Bevor ich anfange, hätte ich gern noch gewusst, wie viel ich eigentlich verdiene«, sagte sie.
Irma guckte sie groß an. »Einen Shilling die Stunde«, knurrte sie fast ärgerlich. »Wenn Ihnen das zu wenig ist, es gibt genug andere, die den Job wollen.«
»Nein, nein, das ist schon in Ordnung«, versicherte Jacqueline hastig, obwohl ihr der Lohn ziemlich niedrig vorkam.
Irma entspannte sich. »Die Tagesgerichte stehen dort angeschrieben.« Sie zeigte auf eine Schiefertafel neben dem Tresen. Die Wand, an der sie hing, hätte einen frischen Anstrich vertragen können. Dann eilte Irma zu dem Tisch, den sie gerade abgeräumt
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