Leuchtende Sonne weites Land - Roman
zu eng, als dass sie die Hand hätte hindurchstecken und den Riegel nach oben stoßen können.
Sie saß fest.
In wachsender Panik schaute Jacqueline sich um. Ben hatte Maschendraht über den gesamten Hühnerhof gespannt, damit die Falken nicht herabstoßen und die Küken holen konnten, und er hatte auch dafür gesorgt, dass nirgendwo ein Fuchs eindringen konnte.
Die Hühner hatten ihre Körner gepickt und auch die Essensreste fast vertilgt. Jacqueline drückte sich angstvoll an die Umzäunung und überlegte, was sie tun sollte. Um Hilfe rufen? Ben war nach der langen Nacht sicher noch nicht aufgestanden, und Nick würde sie von seiner Unterkunft aus niemals hören. Dennoch – sie hatte keine andere Möglichkeit.
»Hilfe! Hilfe!«, schrie sie.
Drinnen im Haus standen Geoffrey und Jimmy am Küchenfenster, spähten durch den Netzvorhang und lachten sich halb tot. Nachdem ihr Plan am Abend zuvor fehlgeschlagen war, war ihnen die Idee gekommen, Jacqueline im Hühnerhof einzusperren. Sie waren ihr dorthin gefolgt, und Geoffrey hatte den Fallriegel heruntergeschoben.
Jetzt hatten die Hennen alles aufgefressen und trippelten neugierig auf Jacqueline zu. Sie schwang den Eimer mit den Eiern, um sie zu verscheuchen, doch sie erreichte nur, dass die Hühner wild flatternd und aufgeregt gackernd umherrannten, fast alle der gerade eingesammelten Eier fielen heraus und zerbrachen. Den Tränen nah, presste sie sich an den Zaun und schrie erneut.
»Hilfe! Warum hilft mir denn niemand!« Jacqueline schloss die Augen und hoffte inständig, dass Ben wach wurde und sie hörte.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie einen kleinen eingeborenen Jungen ein paar Schritte vom Hühnerhof entfernt. Er beobachtete sie neugierig. Jacqueline fiel ein Stein vom Herzen. Der Junge war zwar zu klein, um an den Fallriegel heranzureichen, aber er würde Hilfe holen können.
»Hallo«, sagte sie. »Sei so gut und geh ins Haus, ja? Hol Ben!«
Der Junge starrte sie mit seinen riesengroßen braunen Augen an und blieb stumm. Ob er sie überhaupt verstehen konnte?
»Ben holen«, sagte sie und zeigte zum Haus hin. Der Junge reagierte nicht.
»Wo ist deine Mom? Würdest du sie bitte holen?«
Wieder keine Reaktion. Vielleicht sprach der Kleine nur seinen Stammesdialekt.
»Ben!«, schrie Jacqueline. Sie warf einen ängstlichen Blick über die Schulter auf die gackernden Hennen.
»Hilfe!«, brüllte sie wiederum aus Leibeskräften und stieß dann ein wütendes Grollen aus.
Plötzlich kam Leben in den kleinen Jungen. Er fing zu weinen an, als würde man ihm den Hals umdrehen.
Jacqueline erschrak. »Schsch! Hab keine Angst«, sagte sie beruhigend. »Ich will dir doch nichts …« Sie brach mitten im Satz ab, als sie eine Aborigine-Frau auf den Hühnerhof zukommen sah.
»Was tust du mit meinem Yuri?«, herrschte sie Jacqueline böse an und zog den Jungen an sich.
»Ich? Gar nichts! Ich sitze hier fest. Ich hab um Hilfe gerufen und …«
In diesem Moment erkannte sie die Frau wieder: Es war dieselbe, die einen kleinen Jungen, und zwar diesen kleinen Jungen, wie sie jetzt merkte, mit heißer Asche eingerieben hatte. Der Junge trug nun allerdings ein T-Shirt.
»Was machst du da drinnen?«, fragte die Frau und musterte sie abschätzig.
»Das hab ich doch gerade gesagt! Ich komme nicht mehr raus. Ich habe Eier eingesammelt und … Ach, das ist doch jetzt völlig egal, mach endlich auf und lass mich raus!« Abermals rüttelte sie an der Tür.
Die Frau stellte sich schützend vor den kleinen Jungen, der immer noch schluchzte. »Was hast du meinem Yuri getan?« Hatte die weiße Frau den Verstand verloren?
»Gar nichts, Herrgott noch mal!«, erwiderte Jacqueline und stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Sie war doch diejenige gewesen, die seinen armen kleinen Körper mit heißer Asche eingerieben hatte!
»Was ist denn los da drüben?« Ben war von dem Krach wach geworden, in aller Eile in seine Hose gestiegen und stand jetzt auf der hinteren Veranda.
Die Aborigine-Frau stapfte zu ihm hinüber, den kleinen Jungen zerrte sie hinter sich her. »Warum sperrst du diese Verrückte im Hühnerhof ein, Ben?«
»Was?«
Ben griff sich an seinen Brummschädel. Hätte er doch nur nicht so viel von Ian Bensons selbst gebrautem Bier getrunken! Ian hatte den ganzen Abend damit geprahlt, und als das Bier ausgegangen war, war er nach Hause gefahren, um Nachschub zu holen. Meryl war mitgefahren und stocksauer gewesen, weil ihr Mann noch einmal allein zu der
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