Leuchtendes Land
behandelt wie George. Vielleicht würde er sie eines Tages in einem anderen Licht sehen. Es gab ja keinen Grund zur Eile.
Und dann kam eines Sonntags Dr. Carty zu Besuch.
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3. Kapitel
C lem und Alice traten zögernd aus dem Haus, als Carty dem eleganten schwarzen Gig mit dem glänzenden Verdeck entstieg. Beide fühlten sich gehemmt durch eine Nervosität, die fast an Schuldbewusstsein grenzte, und sie hatten keine Ahnung, was der Doktor von ihnen wollte. Hatte er etwa das Geheimnis um Noahs Testament gelüftet? Alice ließ ihrem Bruder den Vortritt. Als der Doktor seinen weichen schwarzen Hut glatt strich und mit einem fröhlichen Lächeln auf sie zukam, war Clems Erleichterung förmlich spürbar. Dr. Carty warf einen schnellen Blick auf das Farmhaus.
»Die Farm sieht gut aus, Clem. Ich habe gehört, ihr macht eure Sache gut.«
Alice bereitete den Morgentee und trug ihn mit etwas Gebäck im Wohnzimmer auf, das sie glücklicherweise erst am Tag zuvor gereinigt hatte. Sie entschuldigte sich für die angeschlagenen Tassen. »Wenn ich das nächste Mal in York bin, werde ich ein neues Service kaufen«, sagte sie zu Carty. »Bisher hatten wir zu viel zu tun.«
Wie es sich für einen höflichen Gast gehört, erklärte Carty, dass ihm das gar nichts ausmache, bestärkte sie aber in ihrem Vorhaben, neues Porzellan zu kaufen. »Das sollten Sie tun. Teeservices sind nicht teuer. Im Laden gibt es ganz passables Geschirr. Die Kleinigkeiten machen oft den großen Unterschied, junge Dame.«
Vielleicht hatte er Clems missbilligenden Blick aufgefangen, dem es anscheinend peinlich war, dass Alice das Thema überhaupt angeschnitten hatte – jedenfalls überschlug Carty sich plötzlich vor Höflichkeit und machte Alice Komplimente wegen ihrer ausgezeichneten Haushaltsführung. »Eine echte Tugend bei einer so jungen Frau, die keine Mutter mehr hat, die sie anleiten könnte.«
Doch Alice blieb misstrauisch. Was wollte er von ihnen? Warum war er überhaupt gekommen? Sie wünschte, er würde zur Sache kommen, anstatt Clem über den Besitz und die Arbeit mit den Sträflingen auszufragen. Mike und George hatten sich vorsorglich in ihre Schlafkammer zurückgezogen, und Alice hoffte, dass sie dort bleiben würden. Was fiel diesem Doktor ein, die Nase in ihren Haushalt zu stecken?
»Ist hier in der Nähe jemand krank?«, fragte sie daher.
»Meines Wissens nur Großmutter Postle«, antwortete Carty. »Sie ist wieder einmal gestürzt, und die Jungen kamen wie die Teufel zu mir geritten. Als ich auf die Farm kam, hatte sie sich allerdings bereits wieder erholt.«
»Es heißt, sie habe nichts gegen ein Gläschen Brandy«, bemerkte Clem lachend, doch Alice war schockiert.
»Eine Frau von neunzig? Nie im Leben!«
»Vermutlich ist sie nur deshalb überhaupt neunzig geworden«, gab der Arzt zurück. »Sie hatte mehr Unfälle als ein Zirkusartist, aber sie lässt sich nicht kleinkriegen.« Er betupfte sich die Mundwinkel mit einem säuberlich gefalteten Taschentuch. »Wie wäre es mit einem Spaziergang, Clem? Ich muss mir ein bisschen die Füße vertreten, bevor ich heimfahre.«
Clem griff eilig nach seinem Hut, bemüht, dem Doktor zu gefallen. Alice schaute nachdenklich hinter ihnen her, als sie das Haus verließen. Sie spülte ab und goss dann den kleinen Garten vor der Hintertür mit dem Abwaschwasser. Sie war so in Gedanken versunken, dass ihr die Schüssel in die Hortensie fiel. Wie aus dem Nichts tauchte Mike auf, bückte sich danach und gab sie ihr zurück.
»Der da zu Besuch gekommen ist – ist das der Doktor?«
»Ja. Das ist Dr. Carty.«
»Ich hoffe, niemand ist krank.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist wohl nur ein nachbarschaftlicher Besuch.«
Er grinste. »Na ja, wer’s glaubt, wird selig.«
»Stimmt wohl«, sagte Alice und lächelte gequält. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was er mit Clem Geheimes zu besprechen hat.«
»Vielleicht will er sich einfach nur die Zeit vertreiben.«
»Nicht Dr. Carty. Der macht nichts, wofür er nicht bezahlt wird.«
»Lässt er sich das hier etwa auch bezahlen? Sie sollten sich nicht Ihren hübschen Kopf darüber zerbrechen. Es gibt nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten. Lassen Sie das Stirnrunzeln sein. Vielleicht kommt ja etwas Interessantes bei dem Gespräch heraus. Clem wird Ihnen sicherlich darüber berichten.«
Alice eilte mit pochendem Herzen in ihr Zimmer. Hatte Mike sie tatsächlich hübsch genannt? Während sie prüfte, wie das
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