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Leute, ich fuehle mich leicht

Titel: Leute, ich fuehle mich leicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Hennig von Lange
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gehört.« Ich dachte, ich kriege gleich einen Herzinfarkt oder zumindest ein neues Herz, so wie es mir Mama schon tausendmal prophezeit hat. Aber dann war das Ganze doch nicht so schlimm. Trotzdem, ich finde, so eine Information macht sich immer gut im Lebenslauf: Herzgeräusche.
    Anschließend ging es zum Frühstück in den großen Speisesaal und ich habe das ganze Panorama der halb verhungerten Mädchen in unserem Land sehen dürfen. Zum Trost meiner Eltern kann ich sagen: Ich bin nicht der schlimmste Fall. Kurzzeitig dachte ich echt, ich bin in Afrika. Tatsächlich gibt es in dieser Klinik Mädchen, die vor lauter Hunger diese dicken Blähbäuche bekommen haben. Und gleichzeitig hat man diesen schönen Blick auf den See im Morgendunst. Das kann einen schon nachdenklich stimmen. Nach dem Frühstück habe ich Tessi eine SMS geschickt und ihr beschrieben, wie das Leben hier so läuft. Sie hat mir skizziert, wie ihr trübsinniges Leben läuft: Brille will sich weder von Tessi noch von seiner Geliebten - meiner Schwester - trennen. Wobei er offenkundig übersieht, dass meine Schwester sich schon längst von ihm getrennt hat beziehungsweise nie der Meinung war, je mit ihm zusammen zu sein. Sie hat ihm das Herz gebrochen. Ganz klassisch. Und am Ende ihrer sehr langen SMS meinte Tessi: »Ich lass mich auch einliefern.«
    Das wäre ziemlich witzig, wenn Tessi auch hier wäre. Dann könnten wir zusammen zum autogenen Training gehen. Vorhin war ich zum ersten Mal da. Wir, die Patienten, legen uns in zwei Reihen auf Wolldecken auf den Boden und schließen die Augen. Dann sagt die Leiterin vom autogenen Training, dass wir die Arme und Beine ganz locker lassen sollen. Die Gedanken und Gespräche sollten verebben, und wir sollen uns nur eine Welle vorstellen, die langsam und gemächlich auf uns zugerollt kommt, uns aufnimmt und auf der wir gemütlich dahinschwappen. Dabei bin ich weggepennt, und als ich wieder aufgewacht bin, hätte ich am liebsten geheult, weil ich so eine Sehnsucht nach Mama, meiner Schwester und Johannes und Arthur und Tessi - eigentlich nach meinem ganzen alten Leben - hatte.
    Hinter mir klappt die Zimmertür. Simone ist wieder zurück. In ihren hellgelben Bermudashorts, dem engen T-Shirt mit der silbernen Aufschrift »Sexy Girl« und der Sonnenbrille in Herzform stellt sie sich neben mich auf den Balkon und blinzelt zu mir runter:
    »Und? Wie läuft’s?«
    Meint sie meine künstliche Ernährung oder was? Ich gucke zu ihr hoch und denke, dass ich sie überhaupt nicht leiden kann. Sie pflanzt sich neben mich auf den weißen Plastikstuhl und legt ihren nackten Fuß auf meine Stuhllehne, sodass ich ihre frisch lackierten roten Fußnägel genau vor Augen habe. An einer Stelle hat sie allerdings voll über den Rand gepinselt. Schön sieht das nicht aus. Sie wirft ihren Kopf nach hinten, sodass ihre langen braunen Haare über die Rückenlehne fallen. Dabei kichert sie, als hätte ich einen Witz gemacht.
    »Ach ja. Ich finde es herrlich, hier zu sein.«
    »Was findest du denn daran herrlich?«
    Ich fummle mir aus meiner Jeanstasche eine Zigarette und zünde sie an.
    Simone glotzt mich an, als wollte ich ihr die glühende Spitze gleich in die Haut brennen. »Man darf hier nicht rauchen.«
    »Na und?«
    Ich ziehe an meiner Zigarette und gucke zwischen den flimmernden Baumkronen hindurch auf die bläulich schimmernde Oberfläche des Sees, auf dem kleine weiße Segel in der Sonne blitzen. Ich habe mich entschlossen, mich nicht mehr ständig zu bemühen, alles richtig zu machen. Ich will die Freiheit spüren.
    Simone schiebt ihren Unterkiefer schockiert nach vorne.
    »Na und? Wenn die rauskriegen, dass du hier rauchst, musst du nach Hause.«
    »Na und?«
    »Willst du nicht hier sein, oder was?«
    »Nee, wieso? Willst du hier sein?«
    »Klar. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, endlich in eine Klinik zu kommen.«
    »Hä? Warum das denn?«
    Leute, ich glaube echt, Simone hat einen an der Waffel. Kein Mensch geht freiwillig in eine Klinik. Mir würden tausend Sachen einfallen, die ich lieber machen würde - ganz zu schweigen davon, dass ich ein bisschen Panik davor habe, dass mir Johannes abhandenkommt, wenn ich nicht bald wieder die Heimreise antrete.
    Simone wirbelt ihre Haare dramatisch vors Gesicht, dann zurück über die Schulter. Sie glotzt mich von oben bis unten an und meint: »Schon mal darüber nachgedacht, dass die Leute erst richtig anfangen, über dich nachzudenken, wenn du in die Klinik kommst? Das ist

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