Level 4 07 - 2049
werdet durch einen Autounfall zum Krüppel. Kein Problem: Wir scannen das Gehirn in einen gesunden Körper und fertig.« Sie sah den Kindern in die Augen, als ob diese sofort begeistert sein müssten von solchen Aussichten. »Krebsgeschwüre, AIDS, alle tödlichen Krankheiten, Amputationen, Behinderungen, alles kein Problem mehr!«, schwärmte die Wachmeisterin. »Scannen und fertig.«
Frank grübelte. Hörte sich doch gar nicht so schlecht an, dachte er. Nur sehr unbestimmt überkam ihm ein unbehagliches Gefühl, dessen Grund er aber nicht recht beschreiben konnte.
»Aber das bin doch nicht mehr ich!«, schrie da Jennifer die Wachtmeisterin an. »Ich will nicht in einem künstlichen Körper leben!«
»Weshalb denn nicht?« Die Wachtmeisterin konnte offenbar wirklich nicht verstehen, was Jennifer meinte. Je mehr Jennifer sie betrachtete, desto sicherer war sie, dass auch die Wachtmeisterin kein echter natürlicher Mensch war, sondern sich ihr Gehirn in diesen makellosen, jungen Körper hatte kopieren lassen. Jede ihrer Bewegungen ließ erkennen, wie stolz und zufrieden sie mit ihrem Model-Körper war.
»Wie alt sind Sie?«, fragte Jennifer sie plötzlich ganz direkt.
Die Wachtmeisterin lachte. »Was schätzt du denn, meine Liebe?«
Jennifer schätzte ihr Alter auf höchstens fünfundzwanzig Jahre.
Die Wachtmeisterin jubelte. »Siehst du! Ich weiß gar nicht, was du gegen das Brain-scanning einzuwenden hast. In Wahrheit bin ich zweiundfünfzig!«
»In Wahrheit?«, setzte der Onkel nach. »Welche Wahrheit? Selbst Ihr Alter von fünfundzwanzig ist eine willkürlich festgelegte Zahl. Man hat einen Körper geschaffen, behauptet, es sei der Körper einer Fünfundzwanzigjährigen und seitdem behaupten Sie, Sie seien so alt. Dabei sind Sie, was Ihr Erinnerungsvermögen angeht, zweiundfünfzig, nach dem Datum, an dem Sie geschaffen wurden aber vielleicht erst zwei oder drei Jahre alt.«
»Vier!«, korrigierte die Wachtmeisterin. »Na und?«
Jennifer konnte es nicht fassen, dass der Frau so wenig an einer eigenen Identität lag. »Aber Sie haben ein künstliches Gehirn!«, wandte sie ein. »Genau wie ich! Ich kann nicht mal mehr weinen!«
Die Wachtmeisterin sah sie verständnislos an. »Ich habe in meinem Leben genug geweint!«, bekannte sie, und erzählte, dass sie als junges Mädchen dick und nach allgemeiner Anschauung recht hässlich gewesen war. »Kannst du dir vorstellen, was das für eine Jugend war?«, herrschte sie Jennifer an. »Die anderen sind tanzen gegangen, ich habe zu Hause gesessen und geheult, weil mich niemand dabeihaben wollte.«
Jennifer öffnete den Mund, kam aber nicht dazu, etwas einzuwenden.
»Ich weiß, ich weiß …«, plapperte die Wachtmeisterin weiter. »Die inneren Werte. Es kommt nicht nur aufs Aussehen an. Ha! Die dummen Sprüche der Gutaussehenden. Ich kenne sie alle. Was nützen denn deine inneren Werte, wenn du sie niemandem zeigen kannst, weil du aufgrund deiner Hässlichkeit von allen gemieden wirst?«
Die Wachtmeisterin berichtete weiter, dass sie dann – nach achtundvierzig Jahren Einsamkeit – ihre große Chance bekommen hatte. Wenn sie als Security-Verantwortliche das illegale Experiment des Brain-scannings bewachen würde, würde sie als Erste gratis einen neuen künstlichen Körper bekommen. Sie ging sofort darauf ein.
»Seit vier Jahren nun bin ich begehrt wie nie zuvor.Täglich erhalte ich zwanzig Einladungen junger schöner Männer. Beruflich habe ich Erfolg. Bis hin zu diesem Herrn hier.« Amüsiert zeigte sie auf Kosinus’ Onkel. »Hunderte Reporter haben euch umlagert. Und warum ist er ausgerechnet auf mich hereingefallen? Weil er der schönsten Frau aus der Reporter-Traube vertraut hat.«
Die Wachtmeisterin lachte bitter.
Der Onkel wandte verlegen den Kopf ab.
»Mein ganzes Leben hat sich verändert, bloß weil ich plötzlich jung und schön bin!«, gestand die Wachtmeisterin.
Jennifer schüttelte verächtlich den Kopf. »Bis alle so schön sind«, wandte sie ein.
Die Wachtmeisterin verstand diesen Einwand nicht.
»Sie meint«, mischte sich nun auch Chip ein, »dass Ihre Forschung dazu führen wird, dass es bald überhaupt keine Unterschiede mehr zwischen den Menschen geben wird. Alle werden dann aussehen wie fünfundzwanzig und schön sein. Und dann sind Sie wieder nur eine von vielen, der es nicht gelingt, aufgrund anderer Fähigkeiten sich Respekt und Anerkennung zu verschaffen. Sie sind ein künstliches Spielzeug, an dem die vielen jungen Männer
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