Lewitscharoff, Sibylle
Wald zurück, und die abgekämpften, glücklichen Hunde
machten sich über ihren Anteil der Beute her. Am Waldsaum war die Strecke ausgebreitet,
aus aufgehäufelten Blättern und Asten ein provisorischer Totenschmuck für die
erlegten Tiere bereitet. Da lagen sechzehn Wildschweine, sechzehn struppige
Berge mit ihren kollernden Bäuchen, einiges an Rotwild noch, ein Hirsch mit
verdrehtem Kopf in seinem Grasbett, als müsse er sich bis in die schräggelegten
Geweihspitzen über das ihm Widerfahrene doch sehr wundern, und einige Hasen,
hurtige Renner, die es wahrscheinlich mitten im Sprung erwischt hatte.
Meine
Schwester und ich waren Ohrenzeuginnen der Hätz, Augenzeuginnen der
stattgehabten Durchlöcherung einer Schar Tiere. Wir konnten uns vom Anblick der
Strecke nicht losreißen; ich habe die glucksenden Geräusche, die den geblähten
Bäuchen entwichen, noch im Ohr. Kollerte das aus eigener Kraft oder weil die
Tiere gerade aufgebrochen und ausgeweidet wurden? Ich weiß nicht mehr. Natürlich
wurden auch die Jagdhörner geblasen, zu Anfang kurz und hell, dazwischen
einzelne Signaltöne, zum Schluss das Halali. All die schwermütigen Rituale der
Jägerei, von Generation zu Generation bis in die sechziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts gerettet, kamen zur Aufführung.
Seltsam
war auch das Abendvergnügen. Eine grünliche Tapete, die wahrscheinlich schon
mehrere Generationen überdauert hatte, längsgestreift mit Blumen, ihre langen
Stiele überkreuz, mit üppig gefüllten Blüten, die von Streifen zu Streifen den
Farbton wechselten, mal lachsrosa daraus hervortraten, mal zartrosa darin
verschwanden - wenn mich die Erinnerung nicht trügt, umkleidete sie den großen
Salon, wo man sich nach dem Essen versammelt hatte, gutgelaunt, rotwangig und
beschwipst, eine Gesellschaft, die hauptsächlich aus Adligen und nur wenigen
Bürgerlichen bestand. Es wurde Scharade gespielt. In kindlicher
Ausgelassenheit gaben sich die Erwachsenen diesem Spiel hin, waren Feuer und
Flamme, was uns Kinder sehr verwunderte. Noch mehr befremdete uns, dass sich
die großen Jägersleute und ihre Frauen bei so albernen Namen riefen wie Fritzi,
Beppi, Püppi, Putzi.
Nahe
der Tapete hockten wir befangen auf hochlehnigen, rotgeblümten Stühlen und
wurden plötzlich zu kleinen Kopien unserer Mutter. Neben mir, etwa auf Höhe
der Knöchel, hatte die Wand ein Loch, die Tapete ringsum war ausgerissen. Ich
sah abwechselnd in die Mitte des Raums, sah zur Schwester, sah zur Mutter oder
auf das Loch in der Hoffnung, eine Maus würde darin zum Vorschein kommen.
Irrsinnige
Hoffnung, ein Tier, das nur ich erwarte, läuft quer durch den Raum, und alle
hören auf zu denken, was sie gerade denken. Die Versammlung an ihre Plätze genagelt.
Aufruhr dann, Erregung der Männer, Erregung der Frauen, verständige Ruhe der
Kinder. Was Vater, was Mutter. Gestatten, Maus. Mir macht sie ihre Aufwartung
und holt mich weg in eine Gegend, wo es weder Eltern noch tote Tiere gibt. Kind
und Maus sind gelenkig genug, um Hand in Hand durch die Welt zu ziehen.
Traurige
Vernunft, die einem die Mutter im rauchgrauen Chanel-Kostüm wieder an die Seite
schiebt, reglos dasitzend in ihrer goldgeknöpften Brustwehr.
Bis
zu diesem Wochenende hatte unsere Mutter keinen näheren gesellschaftlichen
Umgang mit Adligen gehabt. Was sie vom Adel dachte, dürfte, wenn wir uns
ausnahmsweise mal in den Mutterkopf hineindenken wollen, kleinbürgerlich
romantischer Natur gewesen sein, gleichsam eine Brühe aus Adel und Edel, worin
einige giftige Brocken schwammen. Adlige waren auf einem Gipfelhorst geboren
mit goldenem Namensschildchen um den Hals, aber sie hatten sich diesen
geschenkten Vorzug im nachhinein zu verdienen, indem sie, angehalten durch eine
unerbittliche Erziehung, von unten (trieblich gesprochen unten, denn die Natur
des Menschen lag in den Augen der Schwaben tief, tief unten) zu ihrem
hochgelegenen Anfang wieder emporklettern mussten. Sie hatten zäh, fleißig,
ernst und streng zu sein und mussten sich bei Tisch einem zehnmal komplizierteren
Reglement unterwerfen, als es bei uns zu Hause üblich war, um als ausgewachsene
Adlige dann, Adlige, die den Adelstitel sich verdient hatten, graziös,
gewinnend, weise und gütig zu sein. Durften sie überhaupt lachen?
Kein
Wunder, dass in diesem gähnenden Abgrund der Menschenunmöglichkeit der gesamte
europäische Adel verschwand.
Wie
sie sich auf die Schenkel schlugen, wie Jung, Alt und Uralt lachten, bis ihnen
Tränen in die Augen
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