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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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ein sicheres Indiz, dass da ein anderer Wurm an ihr nagte als das bisschen
Scharade.
    Jetzt
sehe ich das Altersgesicht unserer Mutter deutlich vor mir, seit Jahren zum
ersten Mal: diese nervöse, mutwillige Maske mit leichtem Silberblick hinter
dicken Brillengläsern, umrahmt von einem enormen weißen Haarschopf. Ich sehe
die schlanken, sorgfältig manikürten Finger mit den vielen Ringen, Finger, von
denen Zigarettenrauch aufsteigt, und alles hinter dem Rauch bleibt geheim, von
mir nicht zu entschlüsseln und von meiner Schwester nicht.
    Wir
sind Teil einer geheimen Familienmaschine, die fortwährend Unglück produziert,
der tote Vater schreckt die Kinder, die überlebende Mutter schreckt die Kinder
mehr als der tote Vater, meine Schwester schreckt wiederum ihre Kinder, nur ich
schrecke niemanden, da ich weniger geheim bin. Zur Strafe höre ich die geheimen
Kakerlaken in einem sehr geheimen bulgarischen Hotel und spüre an der Haut, wie
die bulgarische Krankheit mich bewimmelt und eine offene Pore sucht, zu der sie
hereinkriechen kann.
    Geheimniskrämerei
und Verschwörung, die Krankheit der Bulgaren! Geschenk der rumorköpfigen Väter,
Geschenk der mit hohen Stimmen schwatzenden Mütter an ihre Kinder, seit
Jahrhunderten. Von den Verwandten in Sofia bekamen wir immer wieder frische
Proben dieser Krankheit geliefert. Am stärksten gerieten ihre nach Komplotten
forschenden Hirne in Erregung, wenn es um den Tod unseres Vaters ging.
    Eifriges
Knacken von Sonnenblumenkernen, rasches Anwachsen der Schalenhäufchen auf ihren
Tellern.
    Großeltern,
Großtanten, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen waren (und sind, sofern sie
noch leben) davon überzeugt, unser Vater sei vom bulgarischen Geheimdienst
ermordet worden. Die Theorie ist einfach zu schön, um unwahr zu sein. Fest
sitzt sie in ihren Köpfen. Man müsste ihnen die Köpfe abreißen, um sie ihnen zu
nehmen.
    Wenig
nützte es, wenn wir die quälend sich hinschleppenden Zeiten seiner Verstörung
beschrieben, die beiden Versuche, sich in der Badewanne umzubringen, die dem
Erhängen vorausgegangen waren. Es bewirkte nur, dass sich alles
Geheimdienstliche für einen Moment verzog, die Verwandten mit den Schultern
zuckten, als wäre ihnen von jeher gleichgültig gewesen, wie der Mann zu Tode
gekommen war, wobei sie stillschweigend zu einer anderen Lieblingstheorie
überwechselten, von der sie uns aus Höflichkeit nicht sprachen, allenfalls
indirekt.
    Durch
entlegene Anspielungen, die wir im Lauf der Jahre zusammensetzen lernten, kamen
wir dahinter: Seine deutsche Frau hat ihn ermordet, hieß
die Kurzfassung von Theorie Nummer zwei. Das Wie und Warum spielte dabei keine
Rolle. Die Theorie zog ihre Kraft einzig aus der Unbeliebtheit unserer Mutter.
Bei der bulgarischen Familie war sie unbeliebt, weil sie zwei Monate älter war
als unser Vater. Damit hatte er eine alte Frau geheiratet, und das war für
einen Bulgaren eine Schande.
    Eine
kindische Mordtheorie. Weil sie so kindisch ist, hegten auch wir sie,
unbekümmert um alle Fakten, für eine kurze Weile, als wir noch im Wachsen
waren. Zumindest ich hegte sie, von meiner Schwester glaube ich es nur. Ja,
auch in unseren Kinderköpfen hatte die Mutter irgendwann irgendwie irgendwomit
den Vater umgebracht. Allerdings konnte sich die Phantasie nicht richtig
festsetzen; kaum geboren, verkümmerte sie, dorrte, schrumpfte einfach weg,
weil die Erfahrung ihr zu wenig Raum ließ. Die Erfahrung hatte uns gelehrt, dass
die Mutter zu ohnmächtig war, zu unentschlossen, zu wenig raffiniert und vor
allem zu ungeduldig, um einen Mordplan ins Werk zu setzen. Sie kam dafür
eindeutig nicht in Frage, unabhängig davon, wie die Antwort auf das verzwickte
Problem ausging, ob sie ihren Mann je geliebt hatte, und wenn ja, ob zum
Zeitpunkt, da er starb, noch.
    Die
geduldigen Vaterfinger, die ungeduldigen Mutterfinger. Meine Schwester gleitet
mit unheimlich ruhigen Fingern und Zehen durchs Leben, mich befallen immerfort
Zuckungen, da ruht nichts, nachts werde ich herumgeworfen, ich aale mich in
Mordideen, in treuherzig lispelnder Kinderunschuld natürlich. Mir tönet keine
Predigt und keine milde Kinderlehre. Gestatten, Maus. Darf ich Ihnen helfen,
Ihre Familie vollends zu erledigen? Das bleibt natürlich geheim, aber es juckt
mich, die Schwester wenigstens einmal aus ihrer sagenhaften Ruhe zu reißen. Sie
würde höchstens die Stirn runzeln, wenn ich ihr erzählte, vorige Nacht sei ich
stundenlang damit beschäftigt gewesen, sie mit Hilfe einer

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