Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
einen dünnen Schlauch in der Nase eines gesunden Freiwilligen, aus dem ihm – ganz wie bei einer echten Erkältung – eine farblose Flüssigkeit aus der Nase tropfte, die mit einem Fluoreszenzmarker versehen war. Nach einigen Stunden, in denen der falsche Kranke mit anderen Versuchsteilnehmern redete und Karten spielte, war der ganze Raum samt Spielkarten und Möbeln mit Leuchtfarbe bekleckert, einschließlich der Nasen der anderen Testpersonen. Einerseits will man so genau gar nicht wissen, wie es um die Verteilung von Körperflüssigkeiten zum Beispiel in U-Bahn-Waggons bestellt ist, andererseits scheint uns diese Allgegenwart der Erreger nicht sonderlich zu schaden: Mütter stecken sich keineswegs zuverlässig bei ihren erkälteten Kindern an, Ehegatten infizieren sich nicht besonders häufig gegenseitig, und selbst das Küssen Erkälteter gilt als unbedenklich. Offenbar ist der Ansteckungsprozess selbst schon ein komplizierter Vorgang.
Aber nicht einmal die grundlegende Aussage «Eine Erkältung bekommt man, indem man sich bei anderen Erkälteten ansteckt» ist unumstritten, auch wenn einiges dafür spricht: Solange die Dörfer auf Grönland und Spitzbergen nur per Schiff zu erreichen waren, blieb die Bevölkerung in den Wintermonaten, in denen man von der Außenwelt abgeschnitten war, von Erkältungen verschont; nach Ankunft des ersten Schiffs im Frühjahr allerdings brach unweigerlich das große Husten und Niesen aus. Dieser Sachverhalt ist gut dokumentiert, aber bis heute ist nicht hinreichend erklärt, warum sich die Erkältung in der Arktis so eindeutig als von außen eingeschleppte Infektionskrankheit gebärdet, während sich in mehreren großen Studien zeigen ließ, dass die Erkältungsepidemien der Nordhalbkugel sich nicht etwa nach und nach durch die Bevölkerung ausbreiten, wie man es von einer ordentlichen Infektionskrankheit erwarten sollte. Die großen Erkältungswellen treten vielmehr in allen untersuchten Gegenden gleichzeitig auf, und zwar mit Jahresmaxima im Januar, September und November. (Typisch für die Erkältungsforschung: Auch hier gibt es mehr als eine sorgfältig durchgeführte Studie, aus der das Gegenteil hervorgeht.)
Diese gleichzeitigen Erkältungswellen versucht man zu erklären, indem man annimmt, dass wir die entsprechenden Viren als «kommensale Organismen» mit uns herumtragen, die Infektion somit immer in uns schlummert. Allerdings braucht man jetzt wieder einen äußeren Reiz, um diese Infektion auszulösen. Die Art dieses Reizes ist unklar – klimatische Faktoren wie Wind, Feuchtigkeit, plötzliche Erwärmung oder Abkühlung der Umwelt oder des Körpers etwa werden seit der Antike genannt und spiegeln sich in vielen indoeuropäischen Wörtern für «Erkältung» wider. Da auf der Nord- wie auf der Südhalbkugel die Erkältungshäufigkeit in der kalten Jahreszeit deutlich größer ist, liegt es nahe, nach einem Zusammenhang zwischen Klima und Erkältung zu suchen – gefunden hat man ihn bisher noch nicht. Häufig hört man die Begründung, dass wir uns im Winter dicht gedrängt in schlecht gelüfteten Räumen aufhalten. Tatsächlich aber sitzen wir auch im Sommer die meiste Zeit in denselben Räumen herum, was die These etwas unglaubhaft wirken lässt. Trockene Zentralheizungsluft kann ebenfalls kaum der Verursacher sein, denn die Nasenschleimhäute kommen mit trockener Luft gut zurecht. Im Experiment und in der Wüste zeigt sich, dass sie auch bei extrem niedriger Luftfeuchtigkeit weiterhin problemlos funktionieren. Zudem beginnt die Heizperiode in vielen Ländern erst deutlich später als die herbstlichen Erkältungswellen. Spielt ein «geschwächtes Immunsystem» bei der Infektion eine Rolle? Schützen Glück, positives Denken oder Kniebeugen am offenen Fenster? Nichts davon ist bisher erwiesen – das heißt, jeder dieser Effekte wurde bereits nachgewiesen, aber ebenso viele Studien ergeben das Gegenteil oder gleich gar nichts.
Liegt es vielleicht nicht so sehr an der Umgebungstemperatur, sondern an der Auskühlung des Körpers? Zahlreiche Experimente, bei denen wenig beneidenswerte Freiwillige in nassen Badehosen auf zugigen Fluren herumstehen mussten, verliefen unbefriedigend. Auch die erwähnten Studien aus Grönland und Spitzbergen sprechen gegen einen solchen Zusammenhang, da die Epidemien dort zwar mit der Ankunft des ersten Schiffs, jedoch nicht im Geringsten mit Temperatureinflüssen zu tun haben. Besonders perfide wäre die denkbare, aber schwer zu
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