Liberator
waren ja immer noch da oben«, sagte sie. »Erst haben sie gar nicht begriffen, was hier vor sich ging. Und als sie endlich zu schießen begannen, war ein solcher Tumult, dass sie nicht mehr unterscheiden konnten, wer zu wem gehörte.«
»Ich bin getroffen worden«, sagte Sephaltina und hielt eine Ecke ihres Hochzeitskleides in die Höhe, um ein Einschussloch zu zeigen.
»Und sie haben einen ihrer eigenen Leute erschossen.« Gillabeth wies mit dem Fuß auf einen der reglosen Körper auf dem Käfigboden. »Dann …«
»Lass mich weitererzählen«, fiel Quinnea ihr aufgeregt ins Wort. »Ich bin als Erste drauf gekommen! Die Rotarmbinden saßen doch mit baumelnden Beinen in der Luke. Also bin ich hochgesprungen, habe einen der Füße erwischt und gezogen.«
Sie klatschte vor Begeisterung in die Hände. Col erkannte seine Mutter kaum wieder.
»Ja, sie hat den ersten heruntergezogen und seine Waffe dazu.« Gillabeth grinste. »Dann haben wir es ihr alle nachgemacht, und hatten ihre Waffen, bevor sie überhaupt wussten, wie ihnen geschah. Riff gab ihnen dann die Möglichkeit, sich zu ergeben, und genau das haben sie getan, bis auf die, die über das Orlopdeck flüchten konnten.«
»Und da ist sie jetzt, oder?« Col machte einen Schritt auf die Leiter zu.
Gillabeth nickte. »Riff und Dunga und Orris haben sich die Waffen gegriffen und sind aufs Orlopdeck geklettert. Antrobus auch. Allerdings haben wir keine Schießerei mehr gehört. Wir sind zurückgeblieben, um das Seil hochzuziehen.«
»Lasst uns gehen!«, sagte Col.
Er ging voran. Auf den ersten Blick wirkte das Orlopdeck genau wie zuvor: ruhig und höhlenartig; vereinzelt leuchtete blau-weißes Licht auf. Aber als er zu den Gefangenen hinübersah, standen sie nicht mehr in einer Schlange, sondern liefen frei umher und rieben ihre Knöchel. Col seufzte erleichtert.
Auch Dreckige in ärmellosen Hemden standen herum und unterhielten sich mit den gefangenen Protzern. Lyes Arbeiterschaft schien die Seiten gewechselt und sich gegen die Rotarmbinden gestellt zu haben. Nach dem, was Dunga erzählt hatte, hatten sie keinen Grund loyal zu sein. Und dann sah Col Riff und Dunga, die mit Mr. Gibbers Schlüssel Gefangene von ihren Fußfesseln befreiten. Etwas weiter hinten stand sein Vater mit einem Gewehr in der Hand und bewachte eine Gruppe Rotarmbinden.
Col blieb stehen, weil ihn jemand am Ärmel zupfte. Es war sein kleiner Bruder Antrobus, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. »Antrobus! Was ist los?«
Antrobus zeigte auf ein Schild, das zwischen zwei Pfosten hing.
AUSSERHALB DER ABSPERRUNG BLEIBEN
Gillabeth, Quinnea und Sephaltina gesellten sich jetzt zu ihnen. »Was ist denn so wichtig an dem Schild, Antrobus?«, fragte Gillabeth. »Wir haben doch schon Dutzende dieser Schilder gesehen, die Mr. Gibber geschrieben hat.«
Antrobus schien wieder anzuschwellen, als er sich auf einen seiner langen grammatisch korrekten Sätze vorbereitete. »Da Mr. Gibber als Lyes Schreiber fungierte, stellt sich die Frage, ob sie ihn damit beauftragt haben könnte, die Nachricht zu schreiben, die an die Kasernentür in Botany Bay geheftet war.«
Col runzelte die Stirn und sah seine Schwester an. Gillabeth spitzte die Lippen. » Ihr sterbt morgen. Angriff bei Morgengrauen «, wiederholte Col den Text der Nachricht. »Aber wer sollte die Nachricht an der Tür festgemacht haben? Doch nicht Mr. Gibber.«
»Das war Lye selbst«, sagte Gillabeth.
»Du meinst, sie hatte vor dem Angriff noch so viel Zeit?«
Gillabeth nickte. »Das kann doch nicht lange gedauert haben. Während alle anderen mit den Vorbereitungen zu tun hatten, hätte sie sich mit einer Transportschaufel an Land bringen lassen können.«
»Ich habe sie gesehen«, sagte Sephaltina plötzlich.
»Wie bitte?«
»Ich habe sie gesehen, in der Transportschaufel.«
Col sah in Sephaltinas große arglose Augen. »Stimmt, du hattest ja gesagt, du hättest sie schon mal gesehen.«
»Und was hast du da gemacht?«, fragte Gillabeth.
»Ich wollte etwas kaputtmachen, deshalb habe ich mir die Kräne genauer angesehen, aber es war zu schwierig. Dann habe ich jemanden gesehen, der die Transportschaufel an den Kränen bedient hat.«
»Wen?«
Sephaltina zuckte mit den Schultern. »Also nicht Lye«, stellte Gillabeth klar.
»Vielleicht Shiv«, sagte Col.
»Dann ist sie in die Transportschaufel geklettert«, sprach Sephaltina weiter. »Mit ihrem blassen Gesicht und den schwarzen, schwarzen Haaren.«
Jetzt mischte sich eine andere
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