Liberty: Roman
Stunden totschlagen. Setze mich mit einer Tasse Kaffee und Zigaretten hin. Rauche – erst eine, dann noch eine. Ein Mädchen kommt den Gang entlanggerannt. Solja?
»Solja!«, rufe ich. Sie dreht sich um, läuft aber weiter.
»Beeil dich!«, ruft sie mir zu. »Die schließen gleich das Gate.« Sie verschwindet. Ich stehe auf, schnappe meine Tasche, werfe die Zigarette weg und laufe ihr nach. Komme zur Abfertigung.
»Du bist sehr spät dran«, sagt der Steward.
»Ja. Sehr, sehr spät.«
Im Flugzeug sitzt Solja.
»Hej«, begrüße ich sie. »Wo bist du gewesen?« Im Laufe des Sommers hat sie Brüste bekommen.
»Bei meiner Tante Elna.«
»Allein?«
»Nein, aber meine Eltern sind schon vor einer Woche zurückgeflogen.«
»Und wie läuft’s bei ihnen?« Dabei fällt mir ein, dass sie vermutlich nicht die Hälfte von dem weiß, was ich über ihre Eltern weiß.
»Keine Ahnung.«
Marcus
PSYCHOLOGISCHE KRÜCKE
»Das ist deine Schuld«, sagt Jonas zu mir. Ich will nichts sagen, denn es wäre, als würde man einen Freund beschuldigen, obwohl es ein schlechter Freund ist.
»Ich weiß nichts von Mikas Schmuggelei.« Persönlich sage ich mir: Selbst du, Jonas, hättest Mika die Kaffeedosen in einem Flugzeug mitgebracht, wenn er dich darum gebeten hätte, denn sie waren ja versiegelt.
»Mika wusste nicht, wo er sich bhangi und Zebrafleisch beschaffen kann – du hast ihm geholfen.«
»Nein. Ich konnte kaum gehen, während er hier war. Er ist mit seinen alten Freunden von der ISM in der Stadt gewesen.«
Jonas organisiert sofort, dass ich wieder arbeite. Ich werde jeden Morgen mit einem Auto des Projekts abgeholt. Er braucht mich, weil ich sein Spion sein muss, wenn er im Moshi Club ist.
Die Arbeit hilft. Ich nehme zu und mache mir auch nicht allzu viele Sorgen, die zu Säure in meinem Magen führen. Ich arbeite auf Krücken: Registrierung der Lagerbestände, Archivierung, Schreibtischarbeit. Ich strecke mein Bein auf einem Schemel aus und versuche mich so zu verhalten, als wäre ich okay.
Zwei Wochen vor dem letzten und endgültigen Besuch im KCMC passiert etwas: Ich will nach der Arbeit nach Hause. Ich gehe zum Wagen und steige ein. »Wo ist deine Krücke?«, fragt der Fahrer. Ich habe sie vergessen. Ich begreife – jetzt brauche ich die Krücke nur noch psychologisch. Es ist an der Zeit, selbst zu gehen.
ENTTÄUSCHUNGEN VERDAUEN
»Wir haben in Schweden Bilder entwickeln lassen«, sagt Solja eines Abends, nachdem die Eltern zum Saufen in den Club gefahren sind. »Komm, sieh sie dir an.« Wir setzen uns aufs Sofa. Ich habe Rebekka im Arm. Es sind viele schöne Bilder, die in Moshi, am West-Kilimandscharo und in der Waldschule aufgenommen wurden. Sogar ein Foto, auf dem ich als toter Mann im KCMC liege. Ich lächele, denn ich bin noch immer am Leben. Und … eeehhh , ein Kindergeburtstag in der D’Souza-Familie – und dort, in seinem Wohnzimmer: mein Tonbandgerät, die Pioneer Boombox. Sie ist gar nicht auf dem Transport verloren gegangen, sondern wurde von dem gierigen Goa gestohlen und eingesperrt; dort spielt die feine Maschine nun eine hässliche Musik für die Ohren von Dieben und Banditen. D’Souza hat Geld, um die Polizei zu schmieren, ich würde mit einem Versuch, Gerechtigkeit zu verlangen, nur meine Zeit verschwenden. Ich bin der kleine Mann, also muss ich die Enttäuschung verdauen, die Sorge, wieder und wieder betrogen und missbraucht zu werden. Und es muss schnell gehen, ich muss vergessen, denn sonst blubbert die Säure in meinem Magen und entwickelt ein Geschwür, das mich ins Grab bringen kann.
TOTE HAUT
Zum letzten Mal wird der Gips entfernt. Schock. Bin ich ein Inder? Das Bein hat die gleiche Farbe wie ein Schildkrötenpanzer – hellbraun. Und da ist Scheiße, eine Menge Scheiße. Die Haut sieht aus, als sei das Bein tot. Es gehört mir nicht. Auf der einen Seite gibt es ein Bein, auf der anderen ein Stöckchen. Keinerlei Muskeln. Ein Stöckchen, bei dem jemand ein panga genommen und das Bein als einen Baum angesehen hat, der gefällt werden muss. Eeehhh , mir kommen die Tränen.
»Was ist das für ein Scheiß? Ist das etwa ein Bein?«, frage ich.
»Das ist ein Bein«, sagt Claire. »Der Fuß bewegt sich.« Das ist wahr – ein kleines Zittern. Die Muskeln sind fast tot nach vier Monaten ohne Aktivität. Wir fahren nach Hause. Ich wasche mein Bein ordentlich, es kommt mir vor wie in der Sauna: Mein Arschloch sitzt nicht ordentlich fest am Bein, es fällt auseinander wie ein Buch mit
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