Liberty: Roman
dünnen Seiten, eine Seite nach der anderen, und es stinkt. Eeehhh . Ich gehe mit einem Stock, weil das Bein dünn wie ein Stock ist. Ich bin den Gips als Schutz gewohnt. Mein Gehirn sagt: Es müssen links unbedingt zwei Stöcke sein. Treppen steige ich sehr langsam. Mein ganzes Gehirn ist in meinem Bein. Ich bin nur noch Bein. Wenn jemand etwas in der Nähe meines Fußes bewegt, geht es geradezu automatisch – er wird weit weggestellt, damit er mit nichts in Berührung kommt. Fürchterliche Angst.
Mika schreibt mir: »Es wird eine Weile dauern, bis ich wieder auf die Füße komme und dir deine dreiundachtzig Dollar zurückzahlen kann. Aber ich werde es schon schaffen, ich verspreche es.« Träume. Warum soll ich mit dem Dieb Kontakt aufnehmen, wenn er mich bereits total ausgezogen hat? Es führt nur zu einer Verlängerung des Unbehagens.
BIERTROPF
Wenn ich nicht esse, werde ich sterben – und wenn ich esse, gibt es Probleme. Mein Darm ist zu kurz, sein Durchmesser zu klein, und der Magen ist eingeschrumpft. Ich habe lange nicht ordentlich gegessen, sondern hing am Tropf. Und ich esse noch immer sehr wenig; innen muss sich erst alles erweitern, und das ist sehr schwer. Ich fühle mich unwohl, als müsste ich explodieren, obwohl das Essen gut für meinen Körper ist. Ich müsste den ganzen Tag immer wieder eine Kleinigkeit essen. Ich müsste essen, ein bisschen gehen, etwas mehr essen und es sich setzen lassen, bis ich es wieder auffüllen kann. Aber ich kann mir so etwas nicht leisten, ich arbeite. Also muss ich eine Menge Geld und Zeit für Essen aufwenden. Ich kann nicht die ganze Zeit mit einer Tüte Lebensmittel von zu Hause herumlaufen – das Essen würde alt, kalt und geschmacklos werden. Ich weigere mich, es herunterzuschlucken, nur um Schmerzen zu bekommen. Stattdessen trinke ich ein Bier. Es wird schlimmer, denn das Bier vertreibt den Appetit, aber es enthält auch Energie von dem Weizen, aus dem es gebraut ist. Ein Bier zu trinken ist fast so, als würde man eine Scheibe Brot essen, nur nimmt man es durch die Halsröhre ein – eine besonders praktische Form des Tropfs.
DIE KRANKHEIT
Katriina ruft mich. »Was hat Mika gemacht, als er hier war?«
»Ich weiß nicht sehr viel, weil ich damals mit meinem Bein nicht gehen konnte.«
»Aber … war er oft unterwegs?«
»Ja, er hat viel getrunken und eine Menge bhangi geraucht.«
»Mit wem?«
»Er ging mit seinen alten Freunden von der ISM in Bars.«
»Und war er … auch mit Mädchen zusammen?« Ich will Katriina nicht erzählen, wie Mika die fette malaya in ihrem Bett gepumpt hat.
»Keine Ahnung – mein Bein konnte nicht in die Bar gehen, außerdem bekam ich keinen Lohn, ich hatte kein Geld für Bier und Spektakel.«
»Marcus! Hatte er Mädchen?«
»Ja. Ja, er war mit all den Mädchen zusammen, die man für Geld bekommen kann. Den billigen Mädchen aus den Bars. Der Preis von zwei Bieren gab ihm das Recht, zwanzig Minuten zu pumpen.« Katriina schüttelt den Kopf.
»Er ist krank.«
»Der Teufel Alkohol wohnt in ihm«, sage ich und schüttele ebenfalls den Kopf, als wäre ich traurig.
»Nein, er ist jetzt krank, im Gefängnis. Er hat … diese neue Krankheit.«
» Eeehhh «, sage ich – HIV , Aids. In Tansania können wir nicht offen darüber sprechen, aber ich habe über dieses katastrophale Virus in einer Ausgabe des Economist gelesen, die ich von bwana Knudsen geliehen habe. Mika war besoffen und dumm, er hat ohne Socke gepumpt. Holte sich das schlechte Blut von den schlechten Mädchen.
» Pole sana «, sage ich.
DER EHESCHLICHTER
Christian kommt zu Fuß zu meinem Ghetto. Bwana Knudsen hat nachts keine Angst vor Negern, der Sohn kennt den Weg wie eine Ziege. Als Geschenk für mich hat er in Europa eine Menge guter Kassetten gekauft.
»Hör dir mal Biko mit Peter Gabriel an«, sagt er. Aber Christian hat auch Stevie Wonder, Rufus and Chaka, Gregory Isaacs, Steve Kekana, Cool & The Gang, LKJ , Third World, Herbie Hancock, Eddy Grant und Earth, Wind & Fire mitgebracht. Obwohl wir die Bänder auf Soljas lächerlicher Babymaschine hören, ist der Wohlklang ein Wunder in meinem Ghetto.
Ich bringe Christian nach Hause. Wenn du in ihr Haus kommst, herrscht ein vollkommen anderer Lebensstil als bei Jonas. Es gibt keine Schreierei und keine einschüchternde Stimmung; bwana Knudsen liest ein Buch oder eine Zeitung, oder er hört BBC im Radio. Er ist ernsthaft, weiß alles und pumpt nicht mit dem Hausmädchen oder der Sekretärin, und obwohl er
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